Edition des Reisetagebuchs Graf Heinrich XI. Reuß zu Obergreiz (1740-1742)
Ziel des Projekts ist die Erstellung einer Online-Edition des einzigartigen und vielschichtigen Tagebuches der Kavalierstour des pietistischen Grafen Heinrich XI. Reuß zu Obergreiz durch das Heilige Römische Reich deutscher Nation, Frankreich, die Schweiz, Italien und Österreich in den Jahren 1740–42. Kavalierstouren waren adlige Bildungsreisen, die traditionell am Ende der Ausbildung stattfanden und neben der Vertiefung der Sprachkenntnisse vor allem der Vernetzung in der frühneuzeitlichen Hofgesellschaft dienten. Neben der Volltext-Erschließung dieses faszinierenden Zeitdokuments soll die Edition die auf der Reise erworbenen und heute noch in der Staatlichen Bücher- und Kupferstichsammlung im Sommerpalais GreizExterner Link aufbewahrten Objekte digital einbinden. Diese werden zugleich durch zahlreiche im Landesarchiv Thüringen - Staatsarchiv GreizExterner Link überlieferte Reiserechnungen kontextualisiert. Eine digitale Karte wird die Reisestationen visualisieren.
Die hervorragende Überlieferungslage der verschiedenen Quellen sowie die technischen Präsentationsmöglichkeiten durch das vom Lehrstuhl geleitete Editionenportal Thüringen ermöglichen eine besondere Forschungs- und Darstellungstiefe.
Für die Forschung eröffnet das Tagebuch eine Vielzahl von Möglichkeiten. So kann die historische Reise-, aber auch die Netzwerkforschung ebenso von den Inhalten profitieren, wie die Aufklärungs- und Pietismusforschung. Weiterhin ist das Tagebuch an die Geschlechtergeschichte und die Alltags- und Adelsgeschichte anschlussfähig, ebenso wie an die Erforschungen internationaler Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Vor allem für die Landesgeschichte Thüringens kann das Tagebuch wesentliche neue Impulse und Erkenntnisse liefern. So stellt die Kavalierstour das bedeutendste Ereignis im Leben Heinrichs XI. vor dessen Regierungsantritt dar. Sein Leben und Wirken ist bisher noch weitgehend unerforscht, obwohl die beiden Greizer Grafschaften unter ihm wiedervereinigt wurden und er als erster Reuße die Erhebung in den Reichsfürstenstand erreichte.
Die digitale Edition des Tagebuchs ist daher grundlegend und bestimmend für die weitere und zukünftige Erforschung Heinrichs XI. und des Pietismus in Thüringen. Im Zuge des dreihundertjährigen Geburtsjubiläums Heinrichs XI. im Jahr 2022 wird die Edition zugleich der Schärfung des historischen Bewusstseins in der Region dienen.
Das Projekt wird ermöglicht durch eine großzügige Finanzierung der Thüringer StaatskanzleiExterner Link und ist institutionell am Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte des Historischen Instituts der Friedrich-Schiller-Universität Jena angesiedelt. Kooperationspartner sind die ThULBExterner Link und die Staatliche Bücher- und Kupferstichsammlung im Sommerpalais GreizExterner Link.
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Das Tagebuch
Das Reisetagebuch Graf Heinrichs XI. Reuß zu Obergreiz (1722–1800) besteht aus 71 Briefen, die während der Reise durch den ihn begleitenden Hofmeister Anton von Geusau (1695–1749) verfasst wurden und insgesamt 822 Seiten umfassen.
Das Tagebuch bietet nicht nur Einblicke in die international vernetzte Welt des Hochadels und den darin vorherrschenden Geschlechterkonstruktionen und -rollen, sondern überliefert auch tiefgehende Einblicke in die wirtschaftlichen, sozialen, religiösen und politischen Entwicklungen in den besuchten Ländern. Dies ist vor allem für die im politischen System Europas stattfindenden Veränderungen relevant. So führte der Aufstieg Preußens zur Großmacht zu einer Neuordnung des europäischen Mächtesystems. In die Zeit seiner Kavalierstour fallen beispielsweise der Tod des Römisch-Deutschen Kaisers Karl VI. (1685–1740) und der sich daran anschließende Österreichische Erbfolgekrieg mit seinen Auswirkungen auf das europäische Mächtesystem. Besonders aufschlussreich sind die zahlreichen wiedergegebenen Gespräche zwischen den Reisenden und anderen Adligen, Geistlichen und Gelehrten zumeist katholischer Provenienz. Diese ermöglichen vielfältige Einblicke in die Gedanken- und Vorstellungswelt des Verfassers, seiner Mitreisenden und Gesprächspartner. Hieran werden Kontaktzonen für interkonfessionellen Austausch, aber auch Grenzen des Sag- oder Machbaren deutlich: Heinrich XI. und von Geusau waren pietistisch-fromme Lutheraner, die die auf der Reise gemachten Erfahrungen vor ihrem konfessionellen Erfahrungshintergrund spiegelten, werteten und einordneten.
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Die Reisenden
Heinrich XI. Reuß zu Obergreiz war nach dem frühen Tod seines Vaters, Heinrich II. (1696–1722), durch zwei gräfliche Vormünder im Sinne des Pietismus erzogen worden. Beim Pietismus handelt es sich um die bedeutendste Reformbewegung im Protestantismus, die einerseits auf eine Individualisierung des Glaubens und andererseits auf gemeinschaftliches religiöses Erleben setzte. Durch die Betonung von Bildung und Reform wurde eine allgemeine Verbesserung aller Lebensbereiche angestrebt. Der in diesem Sinn erzogene Heinrich XI. war insbesondere dem auf August Hermann Francke (1663–1727) zurückgehenden Halleschen Pietismus verhaftet und spendete bspw. für die pietistische Mission in Sudostindien. Nach der Rückkehr von seiner Kavalierstour ehelichte er mit Conradine Eleonore Gräfin Reuß zu Köstritz (1719–1770) die Tochter eines seiner ehemaligen Vormünder und schloss sich somit auch familiär an die pietistischen Adelskreise an. Das weitere Leben Heinrichs ist nicht erforscht und Kenntnisse liegen nur Bruchstückhaft vor: So wiedervereinte er 1768 die ältere Linie des Hauses Reuß durch das Aussterben des Familienzweiges Reuß zu Untergreiz, errichtete 1769 das Sommerpalais und wurde 1778 zum Reichsfürsten erhoben. Bereits 1768 war Heinrich der St. Stephans-Orden verliehen worden, der zweithöchste Orden der Habsburgermonarchie. In welcher Verbindung der reußische Graf bzw. Fürst zum Erzhaus Österreich und Kaiserin Maria Theresia stand, ist nur eine von vielen Fragen an diesen bisher viel zu wenig erforschten Hochadligen.
Begleitet und angeleitet wurde Heinrich auf seiner Tour durch seinen Hofmeister, Anton von Geusau (1695–1749). Der aus dem niederen Adel stammende Geusau war am Pädagogium Regium in den Glauchaer Anstalten des August Hermann Francke in Halle, den heutigen Franckeschen Stiftungen, erzogen worden. Es handelte sich dabei um eine Schule, die für die Ausbildung adliger und betuchter nichtadliger Kinder vorgesehen war. Neben alten und modernen Sprachen lernte von Geusau am Pädagogium u.a. Mathematik, Geschichte, Botanik und Anatomie. Im Mittelpunkt der Ausbildung stand jedoch die Erziehung zum pietistisch-frommen Menschen, die bei von Geusau insofern verfangen zu haben scheint als er von Francke persönlich protegiert und nach einem Studium der Rechtswissenschaft an der Universität in Halle, in die Dienste des Grafen Heinrich XXIV. Reuß zu Köstritz (1681–1748) vermittelt wurde – des späteren Vormunds und Schwiegervaters Heinrich XI. Hier tat er sich über die Jahre als Hofrat in den verschiedensten Angelegenheiten hervor. 1719/20 begleitete er als Hofkavalier die Grand Tour Heinrich XXIX. Reuß zu Ebersdorfs, eines weiteren Mündels seines Dienstherrn. Nachdem er auf diese Weise Erfahrungen gesammelt hatte, vertraute ihm Heinrich XXIV. 1731/32 die Führung der Kavalierstour seines Sohnes, Heinrich VI. (1707–1783) an. Als Hofmeister leitete von Geusau den jungen Köstritzer Grafen und den befreundeten Rochus Friedrich Graf zu Lynar (1708–1781) durch Frankreich, die Niederlande und England. Der somit als reiseerfahren geltende Geusau erhielt folgerichtig 1740 den Auftrag, die Kavalierstour des Greizer Grafen zu leiten. Nach der Rückkehr von dieser Tour nahm von Geusau seine Tätigkeit als Hofrat in Köstritz wieder auf. Er starb, hoch verehrt 1749 in Köstritz.
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Editionsrichtlinien
Die Editionsrichtlinien richten sich nach den Erfordernissen des edierten Briefkorpus. Die Briefe sind überwiegend in deutscher Sprache abgefasst. Teilweise enthalten sie aber auch längere französischsprachige Passagen.
Die Edition der Briefe umfasst eine vorlagennahe und zeilengenaue Umschrift der kurrenten Handschrift in moderne lateinische Buchstaben mit Hilfe der virtuellen Forschungsumgebung FuD, die im Rahmen des Projektes Editionenportal Thüringen an der ThULB implementiert wird.
Die Genauigkeit der Transkriptionen wird sehr hoch sein, da die Briefe in drei Phasen transkribiert werden. Nach der gründlichen Ersttranskription erfolgt ein detaillierter Korrekturdurchlauf und eine finale Gesamtkontrolle der Texte.
Die Digitalisierung des originalen Brieftagebuchs und einer zeitgenössischen Abschrift erfolgte bereits über die ThULB (s.u.). Das Brieftagebuch kontextualisierende Quellen (Rechnungen, Quittungen, Lebensläufe, Grafiken, Karten) aus dem Staatsarchiv Greiz und dem Sommerpalais werden ebenfalls digitalisiert und im Portal publiziert, aufgrund notwendiger technischer Entwicklungen in dieser Förderphase aber noch nicht transkribiert. Sie enthalten wichtige Informationen, die für das Verständnis der Quelle unabdingbar sind wie bspw. Informationen über alle an der Reise beteiligten Personen, Informationen zum Verfasser und seiner Aufgaben während der Reise oder Listen mit abgehender Korrespondenz.
Im Rahmen der Erschließungsarbeiten erfolgt eine Verschlagwortung auf Briefebene, die Erfassung und TEI-konforme Auszeichnung grundlegender formal-textkritischer Phänomene (Hervorhebungen, Korrekturen, Unlesbarkeiten, Zeilenumbrüche, Absätze, Seitenwechsel, fremdsprachliches Material, Abkürzungen, Handwechsel, Schriftsystemwechsel), editorische Annotierung (Abkürzungsauflösung, Stellenkommentierung bei Auffälligkeiten), sowie die grundständige Erfassung und Kodierung inhaltlich-semantischer Entitäten (Personen/Körperschaften, Orte/Geografika, Objekte (z.B. besuchte/gekaufte Bücher/Gebäude/Statuen/Karten/Gemälde etc.). Die zeitgenössische Abschrift wird mit den Originalen verglichen, Abweichungen werden im textkritischen Apparat dokumentiert.
Das Briefkorpus wird mit einem kritischen Gesamtkommentar historiographisch kontextualisiert. Darin werden die Briefe und ihre Entstehung umfassend beschrieben und die darin behandelten bzw. tangierten Themenkomplexe Kavaliersreise, Hofkultur, pietistisches Reisen, Praxis des Briefeschreibens etc. erläutert. Zum besseren Verständnis werden dem edierten Korpus ferner Biogramme zu Heinrich XI. und Anton von Geusau beigegeben. Eine Bildergalerie, die Verfasser und in den Briefen genannte Personen und Objekte porträtieren, vermitteln visuelle Eindrücke des Geschilderten.
Darüber hinaus ermöglichen Personen-, Organisations-, Orts- und Themenregister und eine Forschungsbibliographie zum Thema die gezielte Nutzung und weitere Erforschung der Briefe. Die angewandten Transkriptions- und Auszeichnungsrichtlinien werden ausführlich dokumentiert.
Alle Briefe werden mit der Markup-Sprache XML (Extensible Markup Language) ausgezeichnet. Dies ermöglicht die Annotation der Primärdaten mit editorischen Informationen, ohne den Originalbefund zu verändern. Die der Edition zugrunde liegenden Kodierungsrichtlinien folgen dem im Rahmen des „Editionenportal Thüringen“ entwickelten ThULB-Basisformat. Dabei handelt es sich um eine (CC-BY-SA-4.0-lizenzierte) Erweiterung des von der DFG empfohlenen TEI-Basisformats des Deutschen Textarchivs (DTABf) auf verschiedene Handschriftengattungen. Dieses ThULBBf wird in FuD im Rahmen des Editionenportalprojekts implementiert.
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Textwiedergabe
Die Edition wird im Editionenportal Thüringen zugänglich gemacht. Dort werden sowohl die vorlagennahe Umschrift als auch eine daraus generierte Lesefassung zusammen mit den Digitalisaten präsentiert. Erstere richtet sich primär an WissenschaftlerInnen und macht die Quellen für unterschiedliche Forschungsfragen zahlreicher Disziplinen nutzbar. Letztere bieten allen an einer flüssigeren Lektüre interessierten BenutzerInnen einen übersichtlicheren Text.
Die Anzeige der Briefe wird in einem iterativen Entwicklungsprozess während der Erschließungsphase im Detail erarbeitet. Die Textdarstellung erfolgt soweit wie möglich nach der Anordnung auf der Handschrift, dies schließt vor allem auch Marginalien mit ein. Topografische Befunde, die nicht an ihrem entsprechenden Platz wiedergegeben werden können (z.B. Überschreibungen oder Textteile zwischen den Zeilen), werden in Form von PopUps o.ä. dokumentiert
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Projektbeteiligte
Mitarbeitende:
- Dr. Paul Beckus (FSU Jena)
- Marita Gruner (FSU Jena)
- Dr. Thomas Grunewald (Franckesche Stiftungen Halle/Saale, FSU Jena)
- Andreas Lewen (FSU Jena)
- Sabrina Mögelin, B.A. (MLU Halle-Wittenberg, FSU Jena)
- Martin Prell, M.A. (FSU Jena)
Kooperationspartner:
- Staatliche Bücher- und Kupferstichsammlung im Sommerpalais Greiz
- Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena
Ehemalige:
- Saskia Jungmann, M.A. (FSU Jena)
- Nikolas Schröder, M.A. (MLU Halle-Wittenberg)