Ivan Franko: Sonette

Übertragen von Christine Fischer.

Coveransicht

Abbildung: Ivan Trusch: Ivan Franko

Ivan Franko: Сонети | Sonette.
Übertragen von Christine Fischer.

Ukrainisch und deutsch,
Dresden: Thelem, 2024
(Kleine slavische Bibliothek.
Hg. von Ludger Udolph)
Softcover, 166 S.,
24,80 €
ISBN: 978-3-95908-738-4

 

 

 

 

Das Dorf in weiter Flur war winzig klein,
der Flusslauf rauschte sanft... im Kreis der Bauern
bewohnte ich mein sehr bescheidnes Heim,
und mit mir lebten Einsamkeit und Trauer.

Als „Adler mit gebrochenen Flügeln“ wurde Ivan Franko, der zusammen mit Taras Schewtschenko und Lesja Ukrajinka zu den bedeutendsten Autoren der Ukraine gehört, von einem befreundeten Dichter charakterisiert. In diesen Worten klingt ein Sonett aus Frankos eigenem Gedichtzyklus Aus Tagen der Trauer an, in dem der lyrische Sprecher seine tiefe innere Zerrissenheit beschreibt:

Hilflosigkeit! Welch Leiden ohne Ende!
Gefühle lodern auf im Herzen hell,
Gedanken ziehn wie Adler, hoch und schnell,
Der Wille aber hat gebrochne Hände.
(S. 115)

Am 27. August 1856 nahe Drohobytsch in den Vorkarpaten geboren, wuchs Franko inmitten einer polyethnischen Bevölkerung auf, in der seine eigene Vielsprachigkeit wesentlich geprägt wurde. Während seiner Studienzeit an der Universität Lemberg (L’viv), die ihm 1875 durch ein Stipendium ermöglicht wurde, stand er dem Kreis der Russophilen nahe. Zur selben Zeit schrieb er auch seine ersten Sonette. Seine am Sozialismus orientierten politischen Ideen, insbesondere den Glauben an eine gewaltfreie Weltrevolution, vertrat Ivan Franko öffentlich, weshalb er zwischen 1877 und 1889 insgesamt dreimal verhaftet wurde und sich einmal sogar der Gefahr ausgesetzt sah, wegen Hochverrats hingerichtet zu werden. Die Erlebnisse jener Jahre suchte er im umfangreichen Zyklus der Gefängnissonette zu bewältigen und innerlich aufzuarbeiten. Ungeachtet seiner Schwierigkeiten mit dem zeitgenössischen Gesellschaftssystem wurde er im Jahr 1906 mit der Ehrendoktorwürde der Universität Charkiv geehrt. Am 28. Mai 1916 starb Ivan Franko nach langer Krankheit in Lemberg.

Sein facettenreiches und vielschichtiges Gesamtwerk umfasst neben literarischen Texten fast aller Genres auch zahlreiche wissenschaftliche, publizistische und übersetzerische Arbeiten, darunter Goethes Faust und Byrons Cain. Der Lyrik, die entgegen Frankos eigener Überzeugung vom gesellschaftlichen Auftrag der Literatur nicht selten mit jener der führenden Vertreter des europäischen Symbolismus (Verlaine, Mallarmé, Brjusov) verglichen wird, kommt darin ganz besondere Bedeutung zu.

Als Essenz seiner Dichtung wiederum können die Sonette, von denen um die hundert bekannt sind, betrachtet werden. Schlüsselthemen sind vor allem in den Freien Sonetten positive Zukunftsvisionen, etwa von der „neuen Saat“ in einer fruchtbaren Erde am Ende des achten Gedichts, der Sinnfindung für das eigene wie auch das kollektive Leben in unermüdlicher Arbeit sowie vom immer wieder neu entstehenden Werk im neunten Gedicht. Im dreizehnten Sonett, dem Lied der Zukunft, wird eine Utopie zumindest für die Nachgeborenen entworfen. An die Stelle der in den Freien Sonetten gestalteten Zukunftsvisionen treten in den Gefängnissonetten zunehmend Klänge tiefer Resignation, umso mehr in jenen Gedichten, die nicht allein Frankos eigene Erfahrungen und Entbehrungen während seiner Inhaftierung im Herbst 1889 beschreiben, sondern darüber hinaus als Allegorie für die von ihm als bedrückend erlebte Zeit gelesen werden können. In diesem Sinne zitiert er im Eröffnungsgedicht die Inschrift auf dem Höllentor im dritten Gesang von Dantes Inferno: „Lasciate ogni speranza“ – „Lasst jede Hoffnung fahren“.

Nicht zuletzt im Zyklus Erinnerungen präsentiert sich Franko als feinsinniger Naturlyriker und folgt damit einem Muster, das Petrarca in der nachantiken europäischen Dichtung begründet hatte. Frankos lyrisches Ich indessen flieht in die Abgeschiedenheit der Natur weniger vor der Liebe als vielmehr aus Enttäuschung und Erschöpfung nach langem Widerstand gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse. Gerade die Anschauung der Natur vermittelt dem lyrischen Ich, wie schon bei den Romantikern, ungeachtet aller Entbehrungen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Diese Zuversicht gelingt dem Sprechenden sogar angesichts der herbstlichen Landschaft allein durch die Kraft der Imagination, wie das Sonett Unser Ebenbild vor Augen führt:

Mein Bruder, siehst du all die abgemähten Fluren,
So weit das Auge reicht, siehst du die Gräserspuren?
Grausam dem Wiesengrund entrissne Sommerblumen
Bedecken jetzt zerdrückt des Erdreichs Krumen.

[…]

Das Leid kann unsre Kraft nicht unterdrücken –
Lebendig werden wir all unsre Gräber schmücken.
(S. 143)

Im vorliegenden Band werden rund 60 Sonette, die meisten von ihnen erstmals in deutscher Fassung, präsentiert.

Christine Fischer, Privatdozentin am Institut für Slawistik und Kaukasusstudien der Universität Jena, hat bisher vor allem Übertragungen aus der russischen Lyrik (darunter Lermontov, Fet, Bunin, Achmatova) vorgelegt. Sie ist zudem Herausgeberin und in Teilen auch Übersetzerin einer von Kennern sehr gelobten dreibändigen Ausgabe der Werke Boris Pasternaks.