In einem der monumentalen Gebäude der Knez-Mihailo-Straße im Stadtzentrum von Belgrad befindet sich die Serbian Academy of Science and Art. Der letzte Tag der Exkursion führte uns dorthin, da innerhalb seiner Mauern auch das Institute for Balkan Studies seinen Sitz hat. Das Institut wurde bereits 1934 unter dem ursprünglichen Namen Institut des Études balkaniques auf Initiative König Alexanders I Karađorđević gegründet. Es war das Erste seiner Art auf dem Balkan und vereinte die prominentesten Balkanforscher seiner Zeit, vor allem durch die Veröffentlichung des „Revue international des Études balkaniques“. Dennoch wurde es während des Krieges 1941 zwangsweise geschlossen. Unter seinem heutigen Namen nahm das Institut 1969 seine Arbeit wieder auf. Die Bereiche seiner Studien sind u.a. Archäologie, Geschichte, Kultur, Kunst, Literatur, Recht, Ethnografie und Anthropologie. Der gemeinsame Nenner aller Forschungen ist das Interesse an der Balkanregion von der Urgeschichte bis in die Gegenwart. In zahlreichen Publikationen und dem zugangsfreien Journal Balcanica werden die Forschungsergebnisse veröffentlicht. Eine Übersicht der Publikationen, der Zugang zum jährlichen erscheinenden Balcanica und die bisher genannten sowie weitere Informationen über das Institut finden sich auf dessen Homepage (http://www.balkaninstitut.com/eng/).

Nachdem unsere Gruppe willkommen geheißen und an diesem warmen Tag mit Wasser und Kaffee versorgt wurde, stellten sich uns Annemarie Sorescu-Marinkovic und Biljana Sikimic persönlich vor. Beide sind Expertinnen für eines der aktuell sechs laufenden Projekte des Instituts, die einzeln auf der Webseite vorgestellt werden. Jedes der Projekte ist für fünf Jahre angelegt, in denen feste Teams an den jeweiligen Fragestellungen arbeiten. 

Annemarie Sorescu-Marinkovic und Biljana Sikimic forschen im Projekt „Language, folklore, migrations in the Balkans“, welches vorrangig an Feldforschungsmethoden orientiert ist und somit gut zu unserem Exkursionsschwerpunkt passte. Dessen Vorstellung erfolgte in zwei kurzen Vorträgen, die im Folgenden zusammengefasst werden. Das Projekt geht von dem synchronen Phänomen der Migration und Mobilität auf dem Balkan aus und untersucht dieses unter Gesichtspunkten der Soziolinguistik, der Anthropologischen Linguistik, der Anthropologie der Migration sowie der Folklore. Die Ausgangshypothese besagt, dass diese Vorgehensweise die folgenden Aspekte von Migration hervorheben könne: Bi- und Multikulturalismus; Bi- und Multilingualismus; Grenzkonzepte; Gespräche und Schilderungen über Migration; Separationsrituale; unfreiwillige Migration (Flüchtlinge, Deportation, Rückführung, Exil); Mobilität von Stadt zu Land; Situation von Migranten der zweiten und dritten Generation; die Interaktion von Sprache und Religion; Wandel sozialer Netzwerke; geschlechtsspezifische Aspekte von Migration; die neue Welle der ökonomischen Migranten; und Serbien als eines von vielen Immigrationsländern. Die Feldarbeit in Form von qualitativen Interviews mit Teilnehmenden orientiert sich an deren Erstsprache oder Dialekt. Eine Schwerpunktregion des Projekts ist Ostserbien, die Region in der auch wir feststellen konnten, dass die größte sprachliche Minderheit die Vlachen sind. Die Sprache der Vlachen wird im Projekt als archaischer Dialekt des Rumänischen beschrieben, der unbeeinflusst von den Veränderungen der rumänischen Standardsprache geblieben ist, aber von der serbischen Sprache beeinflusst wurde (insbesondere lexikalisch).

Grundlegend zu unterscheiden sei zwischen der Situation der Rumänen in der Vojvodina im Norden Serbiens und der Vlachen im Osten. Die Rumänen der Vojvodina hätten seit ihrem Anschluss an Jugoslawien nach dem Ersten Weltkrieg Autarkie eingefordert und Rumänisch zähle heute zu einer der sechs anerkannten Amtssprachen der Vojvodina. Demnach könne Rumänisch innerhalb der Provinz in legislativen und exekutiven Organen genutzt werden und die primäre, sekundäre und teilweise tertiäre Bildung wird in rumänischer Sprache angeboten werden. Im Gegensatz dazu habe der serbische Osten bereits seit der Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich zu Serbien gehört.[1] Die Unterscheidung von Rumänen und Vlachen per Volkszählung wurde erst 1948 vorgenommen. Danach seien Vlachen in Jugoslawien als ethnische Gruppe anerkannt worden, jedoch habe es keine Zugeständnisse zur Unterstützung ihrer Identität gegeben. Teilweise wurden sie assimiliert und die „Vlachen-Frage“ tabuisiert.

Annemarie Sorescu-Marinkovic wies darauf hin, dass wir in einem historisch wichtigen Moment gekommen seien. Seit 2012 sei ein System zur Schreibung des Vlachischen entwickelt worden, sodass es 2015 zu dessen Standardisierung gekommen sei. Zudem komme es zur Einführung des Vlachischen in einigen Grundschulen und sie zeigte uns ein Beispiel für ein vlachisches Lehrwerk. Mittlerweile gäbe es auch eine Webseite und eine Zeitung in vlachischer Schrift. Biljana Sikimic widmet sich im zweiten Vortrag den verschiedenen Roma-Gruppen und ihren Ballungszentren in Serbien. Dazu gehören Novi Sad und Bačka in der Vojvodina und das Banat. Anhand ihrer Informationen wurde zusammenfassend die Übersicht 1.1 für Roma-Gruppen in Serbien erstellt.

Bevor wir das Institut verließen,  durften wir in veröffentlichten Werken des Instituts stöbern und einige sogar mitnehmen. Abschließend lässt sich sagen, dass die Arbeit der beiden Feldforscherinnen nach einer Woche voller eigener Erfahrungen für unsere Gruppe ein Stück greifbarer geworden war und wir Fragen aus einer neu erworbenen Perspektive stellen konnten.

 

Ankunft

Herkunft

Sprache

Religion

Sinti

Einheimische

-

Romanes, Serbisch, teilweise Deutsch

Römisch-Katholisch

Bayash

Einheimische

-

Romanes, Serbisch, teilweise Ungarisch

Römisch-Katholisch (Bačka), Serbisch-Orthodox oder Rumänisch-Orthodox (Banat)

Russische Roma

1917 Flüchtlinge

Russland, Ukraine

 

Serbisch-Orthodox

Ägypter

Nach 1945 Arbeitsmigranten

1999 Flüchtlinge

Mazedonien und Kosovo

Albanisch, Serbisch, teilweise Romanes

Muslime

Ashkali

Nach 1945 Arbeitsmigranten

1999 Flüchtlinge

Kosovo

Albanisch, Serbisch teilweise Romanes

Muslime

Arli

Nach 1945 Arbeitsmigranten

1999 Flüchtlinge

Südserbien

Romanes, Serbisch, teilweise Albanisch

Muslime

Gabori

Nach 1989 Arbeitsmigranten

Rumänien

Rumänisch, Romanes, Serbisch, teilweise Ungarisch

Baptisten

 

Übersicht 1.1

 

 

 

Zusammenfassung nach dem Vortrag zur Feldforschung in Ostserbien am 7..6.2017, gehalten von Prof. Dr. Biljana Sikimić und Dr. Annemarie Sorescu-Marinković 



[1] Die Herkunft der Vlachen wird entweder auf übersiedelnde Gruppen aus dem heutigen Rumänien im 18. und 19. Jahrhundert zurückgeführt oder auf die These, dass bereits zuvor Römer oder romanisierte Thraker südlich der Donau gesiedelt hätten. Sicher ist, dass die Region langfristig von Kriegen und Wiederbevölkerung geprägt ist.