Lepenski Vir
Die Siedlung Lepenski Vir liegt an der Grenze zwischen Serbien und Rumänien am Eisernen Tor und hat ihren Namen von einem Strudel, der in der Nähe liegt. 1967 wurde sie bei Probegrabungen zufällig von Dragoslav Srejović und seinen Studenten der Universität Belgrad entdeckt. Unter den Resten eines römischen Wachturms, einem Begräbnisplatz und einer neolithischen Siedlung aus der Starčevo-Kultur wurden verschiedene ältere archäologische Horizonte entdeckt. Sie überlappen sich teilweise aufgrund der begrenzten Raumverhältnisse – das Areal ist an den breitesten Stellen etwa 50 Meter breit und 170 Meter lang. Die bewohnte Fläche war ursprünglich 5500 Quadratmeter groß, allerdings war schon zu Beginn der Ausgrabungen eine Fläche von 1700 Quadratmetern weggespült worden (Srejović 1973: 37). Keramik aus den ältesten Siedlungsbestandteilen wurde mit Hilfe der Radiocarbon-Methode auf ca. 7000 v. Chr. datiert (Thissen 2009: 15). Ursprünglich lag Lepenski Vir direkt am Ufer der Donau, wurde aber wegen der Stauung des Flusses und Überflutung des Areals um zirka 30 Meter nach oben versetzt.
An der Stelle, an der Lepenski Vir entstand, herrschen gute Bedingungen für eine Besiedlung: die umliegenden Berge schützen vor extremen Temperaturschwankungen und starken Winden. Der Boden ist kalkhaltig und daher auch wärmespeichernd. Die Sommer sind nicht zu heiß, die Winter dagegen mild, es fallen gleichmäßige Regenmengen. Das Mikroklima von Lepenski Vir hat sich jahrtausendelang, seit dem Tertiär, gehalten und einen Rückzugsort für Baumarten geboten, die anderswo schon lange nicht mehr wuchsen, wie den mediterranen Zürgelbaum (Celtis australis). Außerdem liegt das Gebiet zwischen zwei Nahrungsquellen: auf einer Seite grenzt es an den Wald, wo Tiere gejagt werden konnten, auf der anderen Seite an den Fluss. Trotzdem ist das Gelände von außen her leicht erreichbar (Srejović 1973: 34f.)
Ein wichtiges, erwähnenswertes Merkmal der Siedlung ist die Architektur, die Planung verrät. Srejović teilte die verschiedenen Kulturzonen in fünf verschiedene Hauptphasen ein. Die früheste wird Proto-Lepenski Vir genannt und lag direkt am Donauufer, von wo aus sie sich stromaufwärts ausbreitete. Diese Entwicklung verlief sehr langsam, es gibt nur wenige Fundstücke. Man nimmt an, dass die Behausungen in dieser Zeit aus Materialien gebaut wurden, die nicht beständig sind, wie Häute oder Schilfmatten und mit Holzpfosten. Von der Architektur sind aus dieser Zeit nur die Herde erhalten, die aus in die Erde eingelassenen grauen Kalksteinplatten bestanden und das Verhältnis 1:4 oder 1:3 hatten. Außerdem waren die Herde nach dem Fluss ausgerichtet, was zeigt, dass es eine feste Anordnung der Häuser gab. Es finden sich ausschließlich Schädelbestattungen, vermutlich wurden die Toten im Wald für Insekten und Raubtiere aufgehängt und die Reste begraben.
Die darauf folgende Siedlung Lepenski Vir I wird in die Bauhorizonte a-e unterteilt. Sie breitete sich auf die gesamte Uferterrasse aus und dehnte sich auch vertikal aus: Neubauten wurden auf den Resten älterer Behausungen errichtet. Die Häuser haben einen trapezförmigen Grundriss, der Löcher für die Dachstützen enthielt. Außerdem enthalten sie vor dem Herd steinerne Schwellen und dahinter einen kugelförmigen Stein mit einer runden Vertiefung, den Srejović „Altar“ nennt (allerdings ist der Zweck unsicher) und der das Zentrum des Hauses bildet. Die Fundamente der Häuser werden genau abgegrenzt und mit Steinen ausgelegt. Die Böden wurden mit einer flüssigen Mischung aus Wasser, Sand, Kies und gebranntem Kalkstein ausgegossen und in manchen Häusern noch mit einem Estrich überzogen, was sehr beständig ist. Zuvor mussten alle Bestandteile des Innenraums in ihre gewünschte Position gesetzt worden sein. Die höher gelegenen Häuser waren teilweise bis zu einem Meter in den Hang gegraben, um Platz zu sparen. Zwischen den einzelnen Ebenen existierten Rampen, Gänge und Stufen. Die Häuser gruppieren sich um ein zentrales großes Haus, das das Bild der Siedlung bis I e beherrschte und das Srejović in Anlehnung an den Aufbau heutiger Städte den „Marktplatz“ nennt. Diese Entwicklung der architektonischen Planung zeigt, warum Lepenski Vir I als Höhepunkt dieser Kultur gilt, die in der Forschung auch den Namen „Lepenski Vir-Kultur“ trägt und sich anscheinend nicht nur auf die Siedlung am Donauufer beschränkte. Außerdem fand man in dieser Schicht die ersten der Sandsteinskulpturen. Ab I b wurden die Toten im Hausheiligtum bestattet, allerdings fand auch hier nur eine Zweitbestattung statt, nachdem der Leichnam im Wald ausgelegt worden war (Srejovic 1973: 143). Es gab Hirschgeweihe und Hirschschädel als Grabbeigaben. Es ist möglich, dass diese Grabbeigaben dazu dienen sollten, die Eigenschaften der Tiere auf die Menschen übergehen zu lassen, zum Beispiel wie ein Hirsch zu sehen. Dazu wie auch für die Bestattungen der menschlichen Überreste benötigte man anscheinend nicht das vollständige Skelett; einzelne Knochen könnten stellvertretend für das Ganze gestanden haben (Živaljević 2015: 686). Außerdem waren Tiere, besonders die Haustiere der Bewohner, auf einer Ebene mit den Menschen und wurden nicht als Dinge, sondern gleichberechtigte Personen angesehen (Živaljević 2015: 693).
Darauf folgte das rasch erbaute Lepenski Vir II, das nur eine dünne Besiedlungsschicht und keine Überbauung älterer Häuser aufweist. Es bestand nicht lange. Darüber fand man die obersten Siedlungsschichten Lepenski Vir III a und b, von denen sich letztere über 5500 Quadratmeter erstreckte und die größte war. Die Kultur von Lepenski Vir III b bricht schließlich plötzlich ab (Srejović 1973: 38 ff). Lepenski Vir III wird schon zur neolithischen Starčevo-Kultur gerechnet und enthält keine Steinskulpturen mehr.
Besondere Aufmerksamkeit erregen die in Lepenski Vir I b aufkommenden Sandsteinskulpturen, die als die älteste Monumentalkunst Europas bezeichnet werden. Sie dienten möglicherweise einem kultischen Zweck. Srejović teilt sie in drei Gruppen ein, die alle gleichzeitig auftauchen: neben abstrakten Formen mit Mäander-, Wellen- oder anderen Linien gab es auch omphaloi (phallische Darstellungen) und die „naturalistische“ Skulpturen, die am bekanntesten geworden sind: es handelt sich hierbei um Abbildungen von menschlichen Köpfen beziehungsweise Oberkörpern mit fischähnlichen Zügen. (Srejović 1973: 9) Möglicherweise wurde mit diesen Skulpturen, die man größtenteils hinter der Herdstelle aufgestellt entdeckte und dahinter eine Art Hausheiligtum vermutete, die zweite große Nahrungsquelle der Bewohner von Lepenski Vir verehrt: man fand heraus, dass sie sich auf systematische Nahrungsmittelproduktion spezialisiert hatten, im Genaueren den Fischfang. (Srejović 1973: 75) Es könnte sein, dass diese Spezialisierung aus der Not heraus geschah und durch den Kälteeinbruch um 6200 cal BC hervorgerufen wurde. Eines der wenigen Beispiele aus der noch äußerst lückenhaft belegten Zeit des Spätmesolithikum für die Spezialisierung auf Fischfang ist Lepenski Vir (Gronenborn 2014: 29).
Lepenski Vir wird von Srejović als „zeitlich und örtlich isolierte Erscheinung“ bezeichnet und ist nicht in die allgemeinen kulturgeschichtlichen Muster des frühgeschichtlichen Europas einzuordnen. Die Einteilung in Paläolithikum, Mesolithikum und Neolithikum reiche nicht mehr aus. Während die Kunst und Religion dem Paläolithikum zuzuordnen seien, sei die Wirtschaftsform (systematische Nahrungsmittelproduktion) typisch mesolithisch und die Siedlung als ortsfeste Niederlassung typisch neolithisch. Lepenski Vir ist damit ein Vorläufer der Neolithischen Revolution (Srejović 1973: 12f). Lepenski Vir fällt in eine Dekadenzphase, in der, wie man zur Zeit der Entdeckung Lepenski Virs annahm, ortsgebundene und konservative Kulturen mit kleinen Jägergemeinschaften vorherrschten. Ein Kulturfluss kam erst über den Nahen Osten nach Europa. Heute hat man drei Einflusszonen beziehungsweise Routen bestimmt, über die durch Kontakte zu anderen Kulturen die Neolithisierung Europas auf verschiedene Weise voranschritt (Gronenborn/Terberger 2014: 7).
Im Gespräch in Lepenski Vir kam die Frage auf, wie die Versetzung der Siedlung 1970 vonstatten ging. Wir diskutierten darüber, ob die Fundstücke der einzelnen Ebenen komplett, auf einmal, oder in mühevoller Kleinarbeit einzeln versetzt worden waren. Tatsächlich wurden 10 cm dicke Stahlrohre in das Erdreich unter den Häusern eingeführt, nachdem der Hausgrund mit Chemikalien gefestigt worden war. Danach wurde das Haus vom Untergrund getrennt. Die Kleinfunde wurden getrennt nach oben gebracht (Srejović 1973: 221). Außerdem fragten wir uns, wie viele Fundstücke wohl noch gefunden worden wären, hätte man Lepenski Vir nicht so eilig erforschen müssen. Schließlich wurde das Gebiet schon bald nach Beginn der Ausgrabungen überflutet.
Die Donauzivilisation und die Verbindung zu Lepenski Vir
Der Begriff der „Donauzivilisation“ bzw. „Alteuropa“ wurde von Harald Haarmann eingeführt und von ihm in zahlreichen Publikationen erläutert (Haarmann 2010 a und b, 2011, 2016). Er bezeichnet damit übergreifend „Populationen mit gleichgerichteten ökonomischen Interessen, mit überregionalen Kommunikations- und Wertesystemen, mit ähnlicher materieller Kultur und Kultursymbolik“, auch die Vinča-Kultur, auf deren Gebiet Lepenski Vir liegt (Haarmann 2011: 42) Sie sollen die ersten Großsiedlungen, zweigeschossigen Reihenhäuser, Töpferräder, zylindrischen Rollsiegel, Brennöfen mit Möglichkeit der Temperaturregelung, Artefakte aus Gold und Pflüge gekannt haben (Haarmann 2011: 11 bzw. 51) Sie soll eine eigene Schrift und Zählweise gekannt haben, lange vor den Sumerern. Während in Anatolien um 5800 v. Chr. die Siedlungen nach dem Anbruch einer Wärmeperiode schrumpften, soll sich das Siedlungsgebiet der Ackerbauern in Südosteuropa vergrößert haben (Haarmann 2011: 40). Er ordnet Lepenski Vir der Donauzivilisation zu. Die fischartigen Skulpturen der Siedlung sind laut Haarmann Ausdruck der Erinnerung an große Überflutungen im Donautal. Überflutungen sollen auch die Migrationsbewegungen Südosteuropas in dieser Zeit beeinflusst haben (Haarmann 2011: 27). Lepenski Vir stellt für Haarmann aufgrund der Herdstellen, die gleichzeitig säkular und kultisch genutzt wurden, eine Brücke zwischen dem Jungpaläolithikum und der Donauzivilisation dar (Haarmann 2011: 97). Außerdem übernimmt er die Interpretation Srejovićs und stellt auch die „Altäre“ als Verbindungselement zwischen vorkeramischer und alteuropäischer Zeit dar (Haarmann 2011: 106). Aufgrund der komplexen Ausprägung der Kultur von Lepenski Vir, die eine genaue Zuordnung zu einer der drei Phasen der Steinzeit nicht möglich macht (siehe oben), ist die Sichtweise der Siedlung als Brücke zwischen den Epochen einleuchtend.