Während wir in Veliko Tărnovo waren beteiligte sich ein Teil unserer Exkursionsgruppe an einem Ausflug nach Zlatarica. Der Aufenthalt in dieser kleinen Stadt mit ca. 2.500 Einwohnern, die neben Bulgaren auch Pomaken, Serben und Rudari beheimatet, hat bei den dort hingefahrenen Exkursionsteilnehmern einen so bleibenden Eindruck hinterlassen, dass wir Zlatarica einen eigenen Unterpunkt widmen möchten. Ziel des Ausflugs war es, lexikalisches Wissen über die Kunst des Holzlöffelschnitzens zu sammeln und Aufnahmen vom rumänischen Dialekt der Rudari zu machen. Es folgt Christinas Bericht über diesen unvergesslichen Nachmittag:
Die Rudari, auch Baieşi genannt, sind eine Roma-Gruppe, die heute überwiegend in Rumänien, Ungarn, Kroatien, der Slowakei und eben auch in Bulgarien anzutreffen ist. Ursprünglich stammen sie aus der Walachei und Moldawien, wo sie bis zur 2. Hälfte des 19. Jhs. in Sklaverei lebten. Sie mussten in den dortigen Minen arbeiten, bis diese wirtschaftlich nicht mehr interessant waren. Danach befassten sie sich hauptsächlich mit der Herstellung von Holzutensilien, gingen aber auch anderen Berufen nach. Heute unterteilt man die Rudari demnach in Ursari bzw. Mečkari (den Bärenhaltern), Lautari (den Musikern) und Lingurari (den Löffelmachern). Während der Sklaverei in der Walachei und Moldawien ist bei den Rudari das Romanes weitestgehend verlorengegangen, stattdessen übernahmen sie von der Mehrheitsbevölkerung das Rumänische. Da sie für Gewöhnlich in kleinen geschlossenen Gruppen zusammenleben, sprechen die heute in Bulgarien siedelnden Rudari immer noch ein archaisches Rumänisch, in das auch Wörter aus dem Bulgarischen Eingang gefunden haben.
In Zlatarica angekommen, gingen wir zunächst ins Café. Unser Prof. Kahl hatte folgenden Plan: Wir kommen mit den älteren Herren vom Nebentisch in Kontakt, verwickeln sie in ein Gespräch und fragen nach einem Mann namens Ivan, einem alten Bekannten unseres Professors. Der Plan funktionierte tatsächlich. Einer dieser Männer kannte Ivan und erklärte sich sofort bereit, uns zu seinem Haus zu bringen. Als wir bei Ivans Haus angekommen waren und er uns die Tür öffnete, stellte unser Professor fest, dass es ein anderer Ivan ist. Der falsche Ivan entpuppte sich als lokaler Schriftsteller. Dass unser Besuch ein Versehen war, schien ihn nicht weiter zu stören. Bei sich zuhause erzählte er uns die Geschichte von Zlatarica und versprach, uns bei der Suche nach dem wahren Ivan zu helfen. Nachdem er jedem von uns mehrere Exemplare seiner Werke mit einer persönlichen Widmung schenkte, brachen wir mit ihm zusammen zu einer Rudari-Frau auf, die angeblich den wahren Ivan kannte. Unsere Fahrt ging weiter ins Roma-Viertel, nachdem wir unserem Busfahrer die Geschichte vom wahren und falschen Ivan erzählten. Er schien zunächst etwas verwirrt zu sein, hatte aber dann doch Verständnis für die Schwierigkeiten der Feldforschung.
Als wir im Roma-Viertel von Zlatarica ankamen, lernten wir Christina kennen. Es stellte sich heraus, dass sie den von uns gesuchten Ivan tatsächlich kannte. Leider war er schon vor einigen Jahren verstorben. Auf die Frage unseres Professors hin, wer uns denn jetzt noch etwas über die Kunst des Holzlöffelschnitzens erzählen könne, brachte sie uns zu einer Rudari-Familie. Obwohl alle männlichen Mitglieder gerade zu dieser Zeit fleißig das Dach ihres Hauses erneuerten erklärte sich einer von ihnen bereit, uns alles über die Holzlöffelanfertigung zu erzählen. Zunächst zeigte er uns sein Schnitzwerkzeug, das er aus einer Laube in seinem Garten hervorholte. Wir fragten ihn, warum es so unbenutzt aussehe, woraufhin er sagte, dass er es kaum noch benutze, weil man mit Löffelschnitzen kein Geld mehr verdienen könne. Bei einem Schluck selbstgemachten Rotwein erfuhren wir, dass seine Kinder in Italien studieren und arbeiten, Bulgarisch und Italienisch sprechen, dafür aber das traditionelle Handwerk nie gelernt haben.
Nach einer Weile kam Cristina wieder hinzu und brachte uns in das Haus einer Verwandten, die uns beim gemütlichen Kaffeetrinken ebenfalls über das Handwerk der Lingurari erzählte. Auch sie hatte noch einige Werkzeuge zur Holzlöffelherstellung vorrätig, gab aber zu, dass sie selbst keine Löffel mehr herstelle, sondern diese von anderen Leuten kaufe. Das Interview mit ihr gestaltete sich als etwas schwierig, weil der falsche Ivan, der uns zu Christina gebracht hatte, immer noch bei uns war und häufig Fragen auf Bulgarisch in die Runde warf, woraufhin die Interviewte auch auf Bulgarisch antwortete und eben nicht auf Rumänisch, wie es unser Professor wünschte. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass unser bulgarischer Busfahrer Rumänisch konnte. Mit großem Interesse beteiligte er sich an unserem Interview. Schließlich verabschiedeten wir uns von Cristina und bekamen jeder einen Original-Holzlöffel geschenkt.
Alles in allem war es ein sehr interessanter Nachmittag, an dem wir nicht nur die Menschen von Zlatarica näher kennenlernten, sondern auch einen Einblick in die Methoden der Feldforschung gewannen. Hautnah erlebten wir, mit welchen Schwierigkeiten Feldforscher bei ihren Interviews zu kämpfen haben. Unser primäres Ziel, Informationen über das Handwerk des Löffelschnitzens zu erhalten und einige Sprachaufnahmen vom rumänischen Dialekt der Rudari zu machen, haben wir dennoch erreichen können. Leider haben wir keine aktuell tätigen Löffelschnitzer in Zlatarica angetroffen. Christina hat uns jedoch versichert, dass es sie gibt, sie sich jedoch gerade in Griechenland aufhalten, und hat uns eingeladen, nach Zlatarica zu kommen, wenn die Löffelschnitzer wieder zurück sind.