Danzig bei Nacht

Gdańsk – Die Stadt als Symbol im Spiegel der romantischen Freiheitsutopie?

Ein Essay von Vladimir Saypow und Tom Zurbuchen
Danzig bei Nacht
Foto: Tom Zurbuchen

„Nicht Raum oder Region schlechthin bilden die Objekte […],
sondern die Handlungen unter bestimmten räumlichen Bedingungen.“ (Werlen 1993, 253)


Gdańsk ist mehr als nur ein Ort – es ist ein gelebtes Geschichtsbuch, ein pulsierendes Zentrum
des kulturellen epochenübergreifenden Austauschs. Physisch-materiell aufgefasst ist Gdańsk
jedoch eine Stadt, die jeder anderen gleicht: ein kompakter Siedlungskörper mit baulichen
Merkmalen und Sehenswürdigkeiten. Spezifisch für Gdańsk sind das beispielsweise die
Fontanna Neptuna, Stare Miasto, Bazylika Mariacka oder das Museum des 2. Weltkriegs.
Aber ein Ort zeichnet sich nicht nur darüber aus, was tatsächlich als Realien vorfindbar ist,
sondern auch über die strukturelle Verknüpfung von lokaler Verankerung und globaler
Einbindung. So liegt Gdańsk an der Bernsteinstraße, einer historisch bedeutsamen
Handelsroute. Auch heute ist Gdańsk in ein Mobilitätsnetz eingebunden, das lokal-identitäre
und global-dimensionale Eingebundenheit ermöglicht. Dem folgend haben Reisende
Wahrnehmungsunterschiede und Perspektiven auf die Stadt, die von der Mobilitätsform
abhängig sind: eine lange Zugfahrt steht im Kontrast zur Schnelligkeit eines Fluges, ein
Stadtspaziergang zur Fahrt mit dem Taxi. Auch die Entstehung der Solidarność-Bewegung ist
beispielhaft für die Auswirkung von „glokalen“ Implikationen: Was als lokaler Arbeitskampf
begann, löste einen Dominoeffekt aus, der sich über ganz Polen ausbreitete. Trotz seiner
strategisch peripheren Lage konnte sich Gdańsk als Ausgangspunkt dieser Bewegung
zentralisieren.

Die Wahrnehmung von Räumen ist ein komplexes und individuelles Phänomen, das stark von
der jeweiligen Perspektive, den persönlichen Erfahrungen und Hintergründen sowie den
zeitlichen Umständen abhängt. Für einen Touristen im 21. Jahrhundert kann der Besuch des
Museums des 2. Weltkriegs mit Unwohlsein und negativen Emotionen verbunden sein. Die
Konfrontation mit den Schrecken der Vergangenheit kann Beklemmung und Trauer
hervorrufen. Aber welche Perspektive hatten Personen aus der Zeit und wie hat sich diese
unter Zeitzeugen auf die Stadt Gdańsk im 2. Weltkrieg verändert? Wiederrum nahm ein
Arbeiter der Werft Stocznia Gdańska in den 1970er Jahren den Raum ganz anders wahr, der
durch harte Arbeit und die schwierigen Lebensbedingungen determiniert war. Heute ist davon
nur noch wenig übrig, die Werft wurde umstrukturiert und die Erinnerungen werden durch ein
Museum festgehalten und neu inszeniert. Modernes Leben ist komplex und schnell: der Name
des Flughafens Gdańsk erinnert an den berühmten Gewerkschaftsführer und späteren
Präsidenten Lech Wałęsa. Doch ist sich jeder moderne Reisende, der den Flughafen nutzt,
der Geschichte dieser Stadt und dieses Namens bewusst? Auch ein einfacher Versuch der
Kategorisierung von Begriffen durch deutsche und polnische Studierende unter Moderation
durch Herrn Prof. Dr. Marcin Całbecki zeigte, wie die Wahrnehmung eines Raumes variieren
kann. Teilnehmer*innen nehmen Begriffe wie „Idee“, „Konstruktion“ oder „Emotion“
unterschiedlich wahr und verbinden sie mit individuellen Assoziationen. Schlussendlich
wandelt sich auch die politische Eingebundenheit und Orientierung Polens wie eine Kippfigur:
das Regierungsregime war gezwungenermaßen östlich orientiert, während sich das Volk
westlicher Ideale entgegensehnte. Die politischen Umbrüche der 1990er Jahre führten zu einer
Neuorientierung. Diese Veränderung der Eingebundenheit prägt die Stadt bis heute und
illustriert besonders deutlich, wo Vergangenheit und Gegenwart auf einzigartige Weise
miteinander verbunden sind.

Als vierte Perspektive auf den Raum wird Stadt konstruiert. Die Bezeichnung „Gdańsk – Miasto
Wolności!“ verweist auf die lange Geschichte der Stadt im Kampf für Freiheit und
Selbstbestimmung. Gdańsk war im Mittelalter eine freie Hansestadt und später Teil der
Polnischen Republik. Die Stadt erlebte im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Belagerungen
und Besatzungen, verteidigte aber stets ihre Autonomie und konnte sich als geistiges undaktives Zentrum dieser herausstellen. Diese Verlagerung von Machtverhältnissen wird von
physischen und politischen Grenzen widergespiegelt. Auch Günter Grass‘ Roman „Die
Blechtrommel“ nutzt Gdańsk als Schauplatz und konstruiert so die Stadt als einen Ort des
Umbruchs und der Gewalt, aber auch als einen Ort der Hoffnung und des Widerstands. Nicht
zuletzt wird Gdańsk sogar als Metropole bezeichnet (Wikipedia 2024), worin ein Ergebnis
rasanter und verworrener Entwicklung der Stadt beschrieben wird.
Und was genau hat das mit einem modernen Verständnis von Romantik zu tun?
„Menschen können nicht auf die Realität, wie sie ist, reagieren, sondern darauf,
wie ihnen die Wirklichkeit erscheint und wie sie diese bewerten.“ (Hard 1973, 202)
Das Gruppenexperiment zur Wahrnehmung mit anschließender Auswertung unter deutschen
und polnischen Studierenden lässt den Schluss zu, dass eine allgemeingültige und kollektiv
zu verantwortende Realität eine Utopie ist. Durch emotionale Verzerrung und das Streben der
Individuen nach Erfüllung unterschiedlicher Bedürfnisse scheinen die lebensweltlichen
Erfahrungen unendlich zu sein. In einem Punkt dürften sich die Stränge jedoch alle treffen:
Freiheit. Dieser Zustand ist die Grundvoraussetzung für die Gesamtheit aller Bestrebungen
und Wünsche.

Durch die Teilungen Polens in seiner Historie wurde das Land unter den imperialen Mächten
im Sinne einer sozialen Rekonstruktion aufgeteilt, doch eines konnte nicht vereinnahmt und
unterbunden werden: das kollektive Gefühl des Dranges nach Freiheit und Autonomie. Die
physische Abwesenheit des Staates konnte die Sehnsucht eines freien Polens nicht zerstören.
Helden der damaligen Zeit wie Adam Mickiewicz haben dem Drang und Streben nach einem
freien Polen ein Gesicht gegeben und trugen dazu bei, den Menschen an diesen
Hoffnungsanker Halt zu geben. Sinnbildlich kann eben dieser Ankerpunkt vor den Toren der
Werft gefunden werden, welcher auf Erbitten noch 1980, in einer Zeit, in der dies zunächst
unvorstellbar schien, im Gedenken an die Opfer des Streiks vom Dezember 1970 errichtet
wurde. Ausgerechnet dieses Paradoxon, dass in einem einst kommunistischen Land ein
Denkmal für die Opfer der kommunistischen Unterdrückung errichtet wurde, bewirkte ein
Wunder, das Hoffnung auf eine bessere Zukunft machte.
Ob Freiheit vorliegt, hängt von der Wahrnehmung auf diese ab, denn absolute Freiheit, frei
von jeglichen Einschränkungen, ist eine Illusion. Sie würde in Chaos und Willkür münden, die
fragile Ordnung der Gesellschaft zerstören. Der wahre Tanz der Freiheit vollzieht sich auf dem
Drahtseil zwischen individueller Autonomie und kollektiver Verantwortung. Es ist ein ständiges
Abwägen, ein Ringen um Balance, ein Spiel mit den Grenzen des Möglichen, ein nie endendes
Experiment.

Heute ist Gdańsk Miasto Wolności, Polen blüht im vollen Glanz inmitten der europäischen
Union und demonstriert durch sein Entwicklungsstreben und seine Offenheit die Ideale der
freiheitlich demokratischen Grundordnung. Dieses Freiheitsprivileg ist jedoch kein
geschenkter Zustand, es ist ein Gut, welches durch mutige Menschen über dunkle Kapitel der
Geschichte hinweg blutig und unter Einsatz des eigenen Lebens erkämpft wurde und heute
und in zunehmend gesellschaftlich herausfordernden Zeiten gegenüber freiheitsfeindlichen
Mächten verteidigt werden muss.

Quellenverzeichnis
Hard, G. (1973): Die Geographie. Eine wissenschaftstheoretische Einführung. Berlin:
DeGruyter.
Werlen, B. (1993): Gibt es eine Geographie ohne Raum? In: Erdkunde 47, S. 241-255.