Meldung vom:
Die soziale Bewegung Solidarność fasziniert noch heute durch ihre Größe und Durchsetzungskraft. Ausgehend von einem Streik in der Danziger Lenin-Werft im August 1980 organisierten sich die Streikenden in überbetrieblichen Streikkomitees, denen sich Arbeiter*innen aus vielen Betrieben aus Danzig und der Umgebung anschlossen. Innerhalb der Solidarność-Bewegung verbreiteten sich auch romantische Ideen. Die Streiks passten gut in das Narrativ eines Polens, was sich gegen seine Unterdrücker wehren muss, und es zeigte sich auch, dass die Arbeiter*innen die Farben Rot und Weiß nutzen und Flaggen und Armbinden trugen, um ihre patriotische Tradition auszudrücken (Holzer 2007: 84). Die Streikenden in Danzig veröffentlichten 21 Forderungen, in denen sie zum Beispiel die Gründung freier Gewerkschaften oder das Streikrecht forderten. Die Forderungen spiegelten die tiefe Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem autoritären Regime wider, sodass sich die Streikbewegung auf ganz Polen ausbreiten konnte und das Regime zu Zugeständnissen zwang.
Eines davon war die Anerkennung der freien Gewerkschaft Solidarność Ende Oktober 1980, welche als bedeutender Durchbruch in der polnischen Geschichte gilt. Ein Dreivierteljahr später zählte die Gewerkschaftd schon 9,5 Millionen Mitglieder, was etwa ein Viertel der gesamten arbeitenden Bevölkerung ausmachte, zusätzlich gab es noch Partnerorganisationen für Studierende oder Bauern. Die Solidarność stellte immer mehr gesellschaftliche und soziale Forderungen, wie beispielsweise bessere Arbeitsbedingungen, Meinungsfreiheit und politische Reformen. Gleichzeitig verschlechterte sich die Versorgungslage in Polen, was zu sogenannten „Hungermärschen“ führte, bei denen Menschen gegen die zunehmende Knappheit an Grundnahrungsmitteln protestierten.
Um die Situation unter Kontrolle zu bekommen, wurde am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängt. Damit wurde das Streik- und Versammlungsrecht aufgehoben. Funktionär*innen der Solidarność wurden suspendiert oder verhaftet und die gesamte Bewegung wurde unterdrückt.
Mit dem Machtwechsel in Moskau veränderten sich auch die Verhältnisse in Polen. Die Reformen von Michail Gorbatschow, insbesondere Perestroika und Glasnost, schufen ein günstigeres Klima für Veränderungen in den Ostblockstaaten. Dies ermöglichte die Einführung neuer Institutionen wie zum Beispiel des Verfassungsgerichthofs 1985. Die Staatsmacht versuchte Unruhen zu vermeiden, indem sie auf Forderungen der Opposition einging. Eine Wirtschaftsreform führte erstmal zu einer starken Inflation. Infolgedessen kam es zu mehr Unzufriedenheit bei der Bevölkerung. Schließlich fanden im Februar 1989 Gespräche zwischen Staatsmacht und Opposition statt. Bei diesen „Runden Tischen“ wurden wichtige Standpunkte für die zukünftige polnische Gesellschaftsordnung ausgehandelt und im Juni konnten Neuwahlen stattfinden. Die Opposition gewann diese mit einer deutlichen Mehrheit und konnte die Transformation in Polen gestalten. (Borodziej 2010: 360-382)
Besonders in der Zeit des Kriegsrechtes war die Herstellung von Drucksachen eine wichtige Tätigkeit des organisierten Untergrundes, der sich aus den Reihen der Solidarność-Bewegung formierte und so Veröffentlichungen in Umlauf bringen konnte, die nicht zensiert waren. In Samizdat-Verlagen entstanden nicht nur Zeitschriften und Flugblätter, sondern auch Broschüren und Bücher. Darüber konnten Informationen verbreitet werden und Meinungsaustausch unter Oppositionellen stattfinden.
Die Samizdat-Literatur, in Polen auch unter dem Namen „drugi obieg“ (zweiter Umlauf) bekannt, hatte eine besondere Bedeutung für die antikommunistische Bewegung.
Darin zeigte sich, dass die Solidarność nicht nur ein wichtiger Akteur unter Arbeiter*innen, sondern auch unter Intellektuellen war. Es gab verschiedene Universitätsseminare, wie zum Beispiel das Seminar von Maria Janion an der Universität Danzig, in denen Ideen ausgetauscht oder Exilliteratur besprochen wurde. Auch die Solidarność setzte gezielt Literatur oder Musik ein, um ihre Ziele durchzusetzen und Menschen zu erreichen.
In der polnischen Literatur gibt es eine lange romantische Tradition. Prägend für diese ist ein Messianismus, nach dem die polnische Geschichte die Heilsgeschichte reproduziert. Polen also immer wieder in Phasen der Unterdrückung stark sein muss, um schließlich erlöst zu werden. Diese Erlösung leitete dann eine Ära der Freiheit ein. Durch diesen starken Glauben konnte sich polnische Kultur und Identität auch in Zeiten erhalten, in denen Polen fremdbestimmt und geteilt war und formal kein polnischer Staat existierte. Gleichzeitig ist es aber auch eine Denkweise, die Polen als Opfer von Fremdherrschern stilisiert und damit automatisch für unschuldig erklärt. Im Gegensatz zur romantischen Tradition in anderen Ländern, stand in Polen nicht das Individuum im Konflikt mit der Gesellschaft im Mittelpunkt, sondern ein unterdrücktes Individuum, das sich gegen den Tyrannen wehrte. (Janion 1998: 12-14)
In den 1980er Jahren wurden viele klassische romantische Werke wie Konrad Wallenrod oder Dziady (dt. „Totenfeier“) von Adam Mickiewicz oder Lilla Weneda von Juliusz Słowacki neu gelesen.
Auch Künstler*innen aus der Zeit bezogen sich in ihren Werken auf die romantische Tradition. So brachte das Liedermachertrio Jacek Kaczmarski, Przemysław Gintrowski und Zbigniew Łapiński, welches vor allem für den Song Mury (dt. „Mauern“) bekannt war, auch ein Lied mit dem Titel Dziady heraus. Dieser Titel weckt direkt Assoziationen mit dem Werk von Adam Mickiewicz, im Text selbst wird aber auch die lange, traditionsreiche Geschichte Polens betont.
Ein anderes Beispiel ist der, später mit dem Literaturnobelpreis geehrte, Dichter und Schriftsteller Czesław Miłosz. Dieser war von verschiedenen romantischen Autoren, insbesondere Adam Mickiewicz inspiriert und versuchte dessen Vermächtnis zu erneuern. Miłosz konnte aus dem Exil heraus das Regime kritisieren und in seinen Werken die Idee der Freiheit und der Menschenrechte fördern. Er und Zbigniew Herbert wurden zu „Barden“ der Solidarność-Bewegung ausgerufen; ihre Werke wurden im Untergrund verbreitet. (Bill 2018: 54-59)
Eine weitere zentrale Figur in der polnischen intellektuellen Szene war die Literaturwissenschaftlerin Maria Janion, welche die Solidarność-Bewegung maßgeblich beeinflusste. Sie untersuchte in ihrer Arbeit die Wirkungskraft bestimmter Ideen oder Mythen und wie diese das gesellschaftliche Handeln beeinflussen und prägen. Eine zentrale Relevanz für das Handeln in der polnischen Geschichte hat die Idee der Tat. Janion analysierte, wie romantische Mythen, insbesondere der polnische Messianismus, die nationale Identität und das kollektive Bewusstsein formten. Ihr Einfluss ging jedoch über die akademische Analyse hinaus. Sie wirkte zur Zeit der Solidarność aktiv mit, leitete Universitätsseminare und hielt im Dezember 1981 auf dem Kulturkongress in Warschau eine bedeutende Rede, in der sie forderte, dass sich auch Intellektuelle in die Bewegung der Solidarność einbringen und diese intellektuell transformieren, beziehungsweise ihre Wissenschaft politisieren. Gleichzeitig dekonstruierte sie den polnischen Messianismus und das romantische Kulturparadigma, indem sie aufzeigte, wie diese Mythen sowohl emanzipatorisches Potenzial als auch reaktionäre Tendenzen enthalten können (Stoll 2020: 332-334).
Janion war besonders an der Frage interessiert, wie die romantische Tradition in der Gegenwart genutzt werden konnte, um politische und soziale Bewegungen zu inspirieren. Sie sah in der romantischen Literatur nicht nur ein Erbe, das bewahrt werden sollte, sondern ein lebendiges Element, das die Menschen zu aktivem Widerstand und politischer Teilhabe motivieren konnte. Ihre Seminare und Publikationen boten ein Forum für Diskussionen über die Rolle der Literatur und Kultur in politischen Kämpfen und förderten das kritische Denken unter den jungen Intellektuellen, die später wichtige Rollen in der polnischen Zivilgesellschaft spielten.
Die Geschichte der Solidarność zeigt eindrucksvoll, wie eine breite gesellschaftliche Bewegung, die auf Solidarität und gemeinschaftlichem Handeln basiert, tiefgreifende politische und soziale Veränderungen bewirken kann. Die Kombination aus Arbeiterprotesten, intellektueller Unterstützung, kulturellem Ausdruck und internationaler Solidarität machte die Solidarność zu einer der bedeutendsten Bewegungen des 20. Jahrhunderts und einem Symbol für den erfolgreichen Widerstand gegen Unterdrückung und Diktatur.
Literatur
Bill, Stanley (2018): The Splintering of a Myth: Polish Romantic Ideology in the Twentieth and Twenty-First Centuries, in: Being Poland: a new history of Polish literature and culture since 1918, ed. by Trojanowska, Tamara. University of Toronto Press.
Borodziej Włodzimierz (2010): Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. C. H. Beck.
Holzer, Jerzy (2007): Polen und Europa. Land, Geschichte, Identität. Dietz.
Janion Maria (1998): Vorwort, in: Polnische Romantik: ein literarisches Lesebuch von Hans-Peter Hoelscher-Obermaier. Suhrkamp.
Stoll, Katrin (2020): Maria Janion (1926-2020), Polska Akademia Nauk.