An der Ostsee

Freiheit in der Romantik

Ein Essay von Devin Springer
An der Ostsee
Foto: Elisabeth Bergmann

Die Romantik war eine wichtige Strömung in der Literatur und sie tauchte in so vielen euro-
päischen Sprachen auf, dass es auch möglich ist zu sagen, die Romantik sei eine gemeinsame
europäische Literaturepoche gewesen. Es gibt grundsätzliche Ähnlichkeiten, zum Beispiel
und insbesondere das Motiv der Freiheit.
Die Freiheit als Wert und Ziel begann in der Zeit der Romantik (ungefähr von 1790 bis 1830)
eine zunehmend wichtige Rolle zu spielen. Das lässt sich mit den damaligen gesellschaftli-
chen Entwicklungen erklären. Der Beginn der Romantik in der Literatur wird markiert durch
die Französische Revolution, deren Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in den
darauffolgenden Jahren in Europa Verbreitung fanden. Am Ende der Literaturepoche der
Romantik liegt die Julirevolution, in der die Bevölkerungen Frankreichs und anderer europäi-
scher Länder gegen die konservative, restaurative und repressive Politik aufbegehrten, die mit
dem Wiener Kongress von 1815 eingesetzt hatte.
Allerdings kann „Freiheit“ für unterschiedliche Menschen gänzlich unterschiedliche Bedeu-
tungen haben. Das erkennt man gut am Beispiel des Vergleichs von polnischer und deutscher
Romantik beziehungsweise polnischen und deutschen Vorstellungen davon, was Romantik be-
deutet.


Ich habe in der Schule gelernt, dass die deutsche Romantik sich durch die Betonung des Sub-
jektiven und des Individuums auszeichnet. Motive sind die Natur, das Wandern (und zwar
vorzugsweise alleine), Einsamkeit, Fantasie und die Sehnsucht, zum Beispiel nach einer ver-
meintlich besseren, heilen Welt, die man im Mittelalter vermutete. Als Essenz der romanti-
schen Merkmale gilt für mich das Bild „Wanderer im Nebel“ von Caspar David Friedrich,
seitdem wir es im Deutschunterricht besprochen haben: ein einsamer Wanderer in der Natur,
der nachdenklich in die Ferne schaut und damit möglicherweise Sehnsucht impliziert. Das ist
die Freiheit des Individuums von der Gesellschaft, die Freiheit, die man empfindet, wenn man
losgelöst von allen Zwängen mit sich allein von Schönheit umgeben ist. An diesem Bild ist
wenig politisch. Höchstens ist es eskapistisch, weil die Romantiker Fortschritt und Moderne
kritisierten – schließlich lag der Beginn der Industrialisierung ebenfalls in der Zeit der Rom-
antik. Heinrich Heine, der heute vor allem für sein satirisches und höchst politisches Versepos
„Deutschland. Ein Wintermärchen“ bekannt ist, begann als Romantiker und verfasste Natur-
gedichte. Bis er sich schließlich von der Romantik abwandte, um über – in seinen Augen –
wichtige Dinge zu schreiben, nämlich Politik und soziale Ungleichheit. Alle Werke Heines ab
diesem Moment werden zur Literaturströmung des Jungen Deutschlands (1815-1848) gezählt,
nicht zur Romantik. Für letztere hatte er von da an nur noch Verachtung übrig.


Romantik in Polen scheint etwas ganz anderes zu sein und das hat meiner Meinung nach mit
der politischen Situation zu tun, in der sich Polen damals befand. Deutschland und Polen wa-
ren beide keine Nationalstaaten. Nationalstaaten waren Anfang des 19. Jahrhunderts noch die
Ausnahme in Europa und der Welt. Aber während Deutschland aus vielen einzelnen souverä-
nen Staaten bestand, gab es überhaupt keinen polnischen Staat. Der polnische (bzw. polnisch-
litauische) Staat war am dritten Januar 1795 von der Landkarte verschwunden. Die verschie-
denen Teile des heutigen polnischen Staatsgebiets gehörten seither zu Russland, Preußen und
Österreich-Ungarn (Grataloup, 2022, S. 318-319) Gleichzeitig fühlten sich die Polen durch gemeinsame Kultur und insbesondere Literatur einander weiterhin verbunden und nahmen sich durchaus als eine eigene
Nation war. Eine Nation ohne eigenen Staat. Stattdessen war diese polnische Nation verteilt
auf drei Länder, in denen sie jeweils eine Minderheit darstellte. Im Zeitalter des aufkommen-
den Nationalismus gewann daher der Wunsch nach einem neuen, gemeinsamen polnischen
Nationalstaat immer mehr an Bedeutung. In diesem Kontext war die Freiheit der polnischen
Nation ein wichtiges Motiv der polnischen Romantik, ebenso wie das heldenhafte Sterben für
die polnische Nation. Hier geht es also um ein kollektivistisches Verständnis von Freiheit,
ganz anders als das individualistische Freiheitsverständnis in der deutschen Romantik.
So haben die beiden Literaturtraditionen zwei verschiedene Konzepte von Romantik auf der
Basis zweier Gesichter von Freiheit entwickelt. Das wird dann spannend, wenn man versucht,
die Literatur eines anderen Landes in die Konzepte der eigenen Tradition zu pressen. Auf un-
serer Reise nach Gdańsk durften wir auch bei einer Lesung dabei sein. Im Anschluss an die
Lesung, an der Menschen aus Deutschland und aus Polen teilnahmen, gab es eine Diskussi-
onsrunde. Dabei kam es zu einer akademischen Auseinandersetzung, ob Heinrich Heine oder
Goethe und Schiller nun zur Romantik gehörten oder nicht. Aus polnischer Perspektive si-
cherlich ja (der anwesende polnische Professor argumentierte dafür). Aus deutscher Sicht ist
der spätere Heine ganz gewiss nicht romantisch (eine Sicht, die Heine selbst teilte) und Goe-
the und Schiller sind in der deutschen Literatur zwei eigene Strömungen, die Klassik sowie
Sturm und Drang.


Und keine der beiden Seiten hat endgültig Recht. Kultur ist immer sehr komplex und hat zahl-
reiche gesellschaftliche, politische und persönliche Einflüsse. Europa bildet einen gemeinsa-
men Kulturraum, in dem sich künstlerische Strömungen seit prähistorischer Zeit gegenseitig
beeinflussen und befruchten, auch über Grenzen von Nationen und Staaten hinweg. Zwei
Strömungen haben gerade genug gemeinsam, dass solche Gemeinsamkeiten erkennbar wer-
den, aber es ist selten eine gute Idee, die eigenen kulturellen Vorstellungen zu den einzig
wahren zu erheben und alles andere in diese Muster zu zwingen. Die kulturell und historisch
bedingten verschiedenen Sichtweisen auf Themen und auf kulturelle Eigenheiten sind ein
Grund, weshalb es so spannend und bereichernd ist, sich mit Menschen aus anderen Ländern
auszutauschen.

Literatur

Grataloup, Christian, Die Geschichte der Welt. Ein Atlas, C.H. Beck, 7. Auflage, München 2022.