Spracherwerbsstufen als Grundlage für Lehrwerke?

Prof. Dr. Winfried Thielmanns FaDaF-2021-Plenarvortrag mit dem Titel "Mozart für Anfänger? Zum Verhältnis von Sprachdidaktik, Spracherwerbsforschung und Gemeinsamem Europäischem Referenzrahmen" attestierte der Fachdidaktik allgemeinen und den Lehrwerken insbesondere einen "bedenklichen" Zustand. Prof. Dr. Hermann Funk (Universität Jena) und PD Dr. habil. Marion Grein (Universität Mainz) reagieren aus fachdidaktischer Sicht auf den Vortrag und weisen die Pauschalkritik zurück. Die ALM ermutigt zu weiteren Stellungnahmen und Kommentaren.

Die Sprachdidaktik muss umkehren – oder auch nicht!

Eine Replik auf Winfried Thielmanns FaDaF-Vortrag in Freiburg 2021 zum Verhältnis von Sprachdidaktik, Spracherwerbsforschung und Gemeinsamem Europäischem Referenzrahmen

von Hermann Funk

"Didaktik ist" so schreibt Kollege Winfried Thielmann im Abstract zu seinem Plenarvortag auf der FaDaF-Jahrestagung 2021 in Freiburg "der Ort des Nachdenkens über Lehr- und Lernziele und über die Gegenstände, die zur Erreichung dieser Ziele zu vermitteln sind, sowie über deren zeitliche Abfolge, d. h. ihre Progression". Wohl wahr. Grundton im rhetorisch fulminanten Vortrag war dann nach meiner Wahrnehmung aber weniger das Nachdenken über Progressionen, sondern eine geschliffen polemische Attacke des Linguistik-Kollegen gegen DaF/DaZ-Lehrwerke pauschal und die Fachdidaktik unseres Faches, die ja, so der Vorwurf unseres geschätzten Kollegen aus der Sprachwissenschaft, offensichtlich ein wichtiges Forschungsfelder Spracherwerbsforschung völlig ignoriert haben. Der Redner wird weder gehofft noch erwartet haben, dass so ein massiver Vorwurf ohne Antwort von Fachkolleg:innen und Lehrwerkautor:innen bleiben würde. Nun denn.

Der im Vortrag wiederholt erhobene Generalvorwurf war sinngemäß, die Lehrwerke verlangten von den Lernenden, Äußerungen zu produzieren mit grammatischen Strukturen, die sie noch nicht beherrschen können und dabei Wörter zu verwenden, die sie noch nicht kennen können. Mit anderen Worten, hier werde "Mozart für Anfänger" praktiziert. Reaktionen im Chat: Beifall von ebenfalls geschätzten Kolleginnen aus unserem Fach, Unverständnis und Empörung über die ahnungslosen Didaktiker und Lehrwerkpraktiker.

Marion Grein hat in ihrer AntwortExterner Link bereits aus Sicht einer neurowissenschaftlich argumentierenden Spracherwerbsforschung geantwortet und berechtigte Einwände formuliert. Auch wenn ich das von ihr geforderte Vertrauen in die Lehrwerke lieber durch eine jederzeit kritische Analyse ersetzen würde und durchaus die Notwendigkeit sehe, Formate weiterzuentwickeln und auf ihre Wirksamkeit zu überdenken und viele Übungssequenzen für nutzlos halte (Funk 2014 und 2021): Im Grundsatz ist ihr zuzustimmen. Sorgfältige Erprobungen, redaktionelle Professionalität und die Erfahrungen von Autorinnen, Autoren und Lehrkräften kann man nicht einfach beiseite wischen. Diese Antwort ergänzt ihre Einwände aus der Perspektive der zuständigen Fachdidaktik. Schließlich geht es hier um Lernen.

Zur Fachgeschichte der letzten 40 Jahre gehören eine Reihe von grundsätzlichen Infragestellungen der Lehrwerke. Sie reichen von Stephen Krashens Natural Approach Anfang der 80er Jahre und Pienemanns Teachability/Lernability/Processability-Hypothese kurz danach, über Dieter Wolffs konstruktivistische Sicht auf das Lernen in den 90ern und die Genfer DIGS-Befunde von Erika Diehl (2000) und Thérèse Studer (2002) um die Jahrtausendwende bis zu Grieshabers Profilanalyse (2008) einige Jahre später. Alle haben wertvolle Beiträge zur Vermittlung von Regeln und Wörtern im Sprachunterricht geleistet und Spuren in den Lehrwerken hinterlassen, die ich kurz aufzeigen möchte. In der Summe haben sie die Lehrwerke verbessert. Aber keine der Positionen hat die Lehrwerkwelt grundsätzlich revolutioniert, keine der vorgeschlagenen Stufungen und Verfahren wurde für die Lehrwerkentwicklung der modernen Fremdsprachen eins zu eins übernommen und dafür gibt es gute Gründe.

Beginnen wir mit Manfred Pienemanns Processability Theorie (1987) und seinen Schlussfolgerungen aus dem ZISA-Projekt (Clahsen/Meisel/Pienemann 1983), die ihn zum einflussreichsten und meist zitierten deutschen Linguisten in der internationalen Spracherwerbsforschung gemacht haben (vgl. Long 2019). Er konzentriert sich auf die Syntax und damit unter anderem und vor allem auf die Endstellung des finiten Verbs in Nebensätzen und konstatiert 6 Stufen des Spracherwerbs. Den korrekten Gebrauch in freier Anwendung stellt er erst für die 6. Stufe fest. Wer sich die Mühe macht, seinen Datensatz Guy anzuschauen, entdeckt aber, dass diese Stufe bereits nach ca. 100 Stunden erreicht ist, nach aktueller GER-Stufung also bereits im Bereich von A1. Ein überwiegend korrekter Gebrauch wird auch schon vorher konstatiert (Datensatz Teresa). Die Stufung ist nach seiner Überzeugung auch durch explizite Instruktion nicht veränderbar (non-interface-Position). Auch wenn man die Stufung für ein robustes und empirisch belegbares Konstrukt und das Emergenz-Kriterium nicht für ziemlich willkürlich hält (die non-interface-Position, die auf Krashen zurückging, war ohnehin bald umstritten, siehe Schlak, 2000, 119f.), so sind die Konsequenzen auf die Vermittlungspraxis nicht so eindeutig, wie Kollege Thielmann unterstellt. Pienemanns Befunde, die zu einer Vielzahl weiterer Forschungen angeregt haben, haben aber geholfen zu verstehen, dass nicht jede Struktur zu jedem Zeitpunkt im Lernverlauf gelernt und verarbeitet werden kann und den Unterschied zwischen Lernen und Erwerben nochmals verdeutlicht, bzw. weiterentwickelt. Auch wenn dies nicht der Ort einer vertieften Auseinandersetzung aus didaktisch-methodischer Sicht mit den Hypothesen sein kann, so bleiben doch zwei Punkte festzuhalten, die auch für alle weiteren von Thielmann zur Anwendung empfohlenen Stufungshypothesen gelten: Die enge Konzentration auf die progressionale Stufung des Erwerbs grammatischer Strukturen und insbesondere auf die Syntax bildet nur einen sehr kleinen Teil des Lernprozesses und der Progression des Erwerbs sprachlicher Handlungen ab. Erfolgreiches sprachliches Handeln (und dessen Training) ist auch dann möglich und sinnvoll(!), wenn der korrekte freie Gebrauch einer Struktur noch nicht möglich ist. Theoretisch untermauert wird dies durch die Forschungen zum Erwerb von Automatismen, Routineformeln und sprachlichen Wendungen, die in Profile Deutsch in Bezug auf den GER ausdrücklich einbezogen werden und deren kommunikativ korrekter Gebrauch nebst Transfer belegbar ist (Wray 2002, Handwerker 1995, deren Chunk-Begriff allerdings im Gegensatz zu Wray ausschließlich grammatisch definiert ist). Die Konzentration auf Fehler bzw. deren Abwesenheit als Erfolgsbeleg verkennt die Vielfalt und teilweise Unvorhersagbarkeit von expliziten und implizit/inzidentellen Lernprozessen. Die Lernenden als autonome Persönlichkeiten und ihre Entwicklung und ihre Bedürfnisse geraten dabei ebenfalls aus dem Blick. Was tun wenn Lernende, die wir nach der Profilanalyse auf Erwerbsstufe 2 einstufen um Erklärung einer Struktur bitten, etwa dem Gebrauch des Partizips in einem Perfektsatz, die sie erst auf der Stufe 6 verstehen können und verwenden sollen? Das Bedürfnis nach Verstehen von beobachteten Strukturen in Umwelt und Sprache gehört zur Grundausstattung menschlichen Lernverhaltens. Auch wenn es im Lernprozess nicht zu jedem Zeitpunkt zielführend ist. Aus pädagogischer Sicht stört mich der gesamte pater-, pardon maternalistische Habitus. Wieso soll ich als besserwissende Lehrkraft den Lerndenden ständig vorschreiben, was sie schon oder noch nicht können sollen oder fragen dürfen. Um im Vortragsbild zu bleiben: Mozart hätte auf diese Weise betreut mit sechs Jahren sicher noch nicht Klavier spielen können dürfen.

Kommen wir zu der im Vortrag mehrfach angesprochenen DiGS (Deutsch in Genfer Schulen) – Studie und werfen wir zuerst auch hier einen Blick auf die Daten (Diehl, u. a. 2000, Studer 2002). Ausnahmslos alle Schüler:innen mit der Erst- (mehrheitlich) oder Zweitsprache Französisch, die zu der beeindruckenden Textsammlung beigetragen haben, haben mit dem audiolingualen Lehrwerk Vorwärts! in der bearbeiteten Version des Schweizer Kollegen Marsch (von Lehrkräften oft Vorwärts Marsch! genannt) mit einem relativ einseitigen Sprachbewusstheit vernachlässigendem Übungsrepertoire gearbeitet. Unklar bleibt, ob mit einem anderen Input auch die lernerseitige Verarbeitung nicht ganz anders ausgesehen hätte. Erika Diehl hat seinerzeit zusammen mit Thérèse Studer ihre Ergebnisse auf der Göttinger FaDaF-Jahrestagung vorgestellt, aber zu keiner Zeit, anders als manche Epigonen, empfohlen, die ermittelte Erwerbsprogression zur Grundlage der Lernprogression an Genfer Schulen zu machen. Nachdrücklich und völlig nachvollziehbar hat sie aber auf der Grundlage der Studie z. B. im Rahmen der Genfer Lehrerfortbildung für Fehlertoleranz geworben. Im DiGS Fehlerkorpus (und in anderen) ist anschaulich zu besichtigen, was passiert, wenn im Unterricht das Training sprachlicher Wendungen nicht stattfindet. Statt die Akkusativ/Dativ-Opposition zu betonen und von Wechselpräpositionen zu reden (im konkreten situativen Kontext wechseln die den Kasus überhaupt nicht) muss als Konsequenz die Trennung von Verb/Präposition/Nomen zugunsten eines bedeutungsorientierten Arbeitens mit Wendungen beendet werden. All das kann man in Lehrwerken, zumindest in mehreren, schon sehen, wenn man denn hinschauen würde. Auch die nicht nur in diesem FaDaF-Vortrag gescholtenen Stufen-Tests sind in den letzten 20 Jahren mehr und mehr von der Überbetonung des Kriteriums grammatischer Korrektheit abgerückt.

Auch Wilhelm Grieshabers Profilanalyse war eine im Sinne Kurt Levins nützliche Theorie – schließlich war sie Gegenstand zahlloser überzeugender Bewerbungsvorträge jüngerer Kolleginnen, die sie völlig zu Recht in auskömmlich Anstellungsverhältnisse gebracht haben. Sie hat in großem Umfang zu weiteren Forschungen angeregt und zum besseren Verständnis von Fehlerursachen beigetragen, wenngleich gerade diesbezüglich gewarnt werden muss, Fehler vorschnell oder ausschließlich mit einer (nicht erreichten) Spracherwerbstufe zu erklären. Eine monokausale rein linguistische Definition von Fehlerursachen würde die große Unzulänglichkeit der Kontrastivitäts-Forschung fortschreiben. In ihrer Fehlerfixierung, der Gleichung "Abwesenheit von Fehlern = Kompetenz" bleibt der den Stufungsmodellen zugrundeliegende Kompetenzbegriff im Vergleich zu pädagogischen und pragmadidaktischen Kompetenzmodellen eng und einseitig. Auch dies erklärt ihren geringen Einfluss auf sprachdidaktische Modellierungen und Curricula, trotzt des erheblichen Personal- und Forschungsaufwands.

Wenn der liebe Gott strafen will, dem erfüllt er seine Wünsche, sagt man. Kommen wir also dem Wunsch Winfried Thielmanns nach und nehmen wir den Diehl/Studer Befund als Progressionsvorlage für ein Grundstufenlehrwerk und vergessen wir mal den GER (der im übrigens gar keine Grammatikprogression vorschlägt, die hier als Grundlage allen Übens und Übels ausgemacht wird). Raus also mit dem Perfekt und der Verbstellung in der Satzklammer im Aussagesatz aus dem A1- und A2-Unterricht. Wozu müssen Lernende schon so früh darüber berichten, wo sie früher gelebt, gewohnt, gearbeitet oder studiert haben (regelmäßige Partizipien, die bereits in Eurolingua (1997) vorgezogen und als Wendungen trainiert werden). Auch die Modalverben, die mit einer Fülle von Sprachhandlungen der Alltagsregulierung verbunden sind, entsorgen wir aus dem A1-Unterricht. Viel zu fehleranfällig, das lernen wir auf einer späteren Erwerbsstufe. Raus auch mit dem Syntaxprogramm aus A2, das in der Regel Kausalsätze, Konditionalsätze und Relativsätze umfasst. Warum sollten wir etwa Lernende auf A2 mit Texten quälen, die sich etwa mit Gründen und Folgen (etwa für Migration) befassen. Das verstehen sie doch auf dieser Spracherwerbsstufe noch gar nicht. Raus mit Orts- und Richtungsangaben (Wo/Wohin) auf A1. Korrekter Akkusativ/Dativgebrauch kommt erst (je nach Modell) in Spracherwerbsstufe 4 oder 6. Und statt dessen? Stuhlkreis? Sprachsensibilisierung? Spiele & Lieder? Wenn der Vortrag eine ernsthafte Debatte darüber anregen sollte, wie man den Anfangsunterricht verbessern kann, dann wäre das sehr zu begrüßen.

Die Diskussion um die Rolle der linguistisch erforschten Spracherwerbstufen und ihre Empfehlung als Grundlage von Progressionen wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Binnenstruktur einer Fremdsprachenphilologie, die sich von den anderen wie Englisch und Französisch in zwei Punkten wesentlich und strukturell mit dramatischen Folgen unterscheidet: Für die Schulfremdsprache Englisch zählen wir bundesweit ca. 30–40 Professuren mit explizit fachdidaktisch-methodischer Denomination, für die romanischen Sprachen immerhin ca. 12, für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache – die bayerische Denomination DiDaZ eingerechnet etwa halb so viele. Die durchgängige Dominanz der Linguistik in Berufungskommissionen (auch hier ist Bayern die Ausnahme), sorgt dafür, dass sich daran auch nichts ändern wird. Die linguistische Lufthoheit in den Fachdebatten um die Zweitsprachendidaktik wird uns erhalten bleiben, wozu auch eine entsprechende Forschungsförderung beiträgt. Die erfreulicherweise zunehmende empirische Ausrichtung der linguistischen Forschung auf die Schulpraxis hat daran nichts geändert. In der Praxis fühlt man sich dort oft mehr beforscht, befragt, beschrieben, videografiert und benutzt als unterstützt. Lehrkräfte-Fort- und Weiterbildung geht anders. Das zweite Problem der Fachdiskussion liegt darin, dass sich von ca. 15 neuberufenen Kolleginnen in DaZ-Lehrstühlen und Professuren der letzten sechs Jahre eigentlich niemand auf den Bereich der Erwachsenenbildung und das berufsvorbereitende Lernen spezialisiert hat. Schade eigentlich, denn dort lernen die meisten Menschen spätestens seit 2015 Deutsch als Zweitsprache. Im Ergebnis führt das zu oft weitreichenden, aber völlig unpraktikablen Empfehlungen für den Sprachunterricht mit Erwachsenen wie die unseres Chemnitzer Kollegen, um die es hier geht.

Michael Legutkes Festschrift vorangestellt findet sich dessen Frage: "Wann, lieber Kollege waren Sie das letzte Mal im Unterricht?" Wer öfters Unterricht erlebt – in Pandemiezeiten leider nur digital – und sich darüber hinaus mit Erprobungsberichten zu Lehrwerken befasst, findet keine Spur von kollektiver Überforderung, wohl aber viel Kreativität und auch Spaß am Lernen, nebenbei sicher auch hier und da problematische Übungen und wenig zielführende Aktivitäten. Daran kann man arbeiten. Wer glaubt ernsthaft, dass reflektierte Praktiker:innen weltweit klag- und gewissenlos über Generationen ihre Lernenden permanent überfordern und mit völlig unzulänglichen Lehrwerken traktieren? Wie erklären sich dann ansehnliche Text- und Medienprodukte und Projektergebnisse auch jenseits formaler Tests? Winfried Thielmann leitet die Behauptung einer solchen Überforderung in seiner hermeneutischen Beweisführung ausschließlich aus der Systematik der behaupteten und durch Unterricht angeblichen unveränderbaren Stufung des Erwerbs von Sprachstrukturen ab. Dafür und für die Überforderung fehlt mir ein Beleg aus den gescholtenen Lehrwerken und ein Blick in die so vielfältige Praxis.

Bertold Brecht beschreibt im 4. Kapitel seines Leben des Galilei, wie der Forscher seine Kollegen am Florentiner Hof im frühen 17. Jahrhundert auffordert, durch das neu erfundene Fernrohr zu schauen, um seine grundlegenden Beobachtungen zu seinem Weltbild zur Kenntnis zu nehmen und diese sich standhaft weigern.

Meine Herren, ich ersuche Sie in aller Demut, Ihren Augen zu trauen. (...) Ich schlage euch vor: schaut hindurch! Was sind alle Spekulationen über Himmel und Erde, laßt sie fahren, wenn ihr ein Zipfelchen der Welt wirklich sehen könnt!

(Galilei)

 

In Bezug auf Lehrwerke und Unterricht gilt gleichfalls: Eppur si muove!

Literatur

  • Brecht, Bertolt (1998): Leben des Galilei. Edition Suhrkamp (zuerst 1938).
  • Clahsen, Harald; Meisel, Jürgen M. & Pienemann, Manfred (1983): Deutsch als Zweitsprache. Der Spracherwerb ausländischer Arbeiter. Tübingen: Gunter Narr.
  • Dengscherz, Sabine; Businger, Martin & Taraskina Jaroslava (Hrsg.) (2014): Grammatikunterricht zwischen Linguistik und Didaktik. DaF/DaZ lernen und lehren im Spannungsfeld von Sprachwissenschaft, empirischer Unterrichtsforschung und Vermittlungskonzepten.
  • Diehl, Erika; Christen, Helen; Leuenberger, Sandra; Pelvat, Isabelle & Studer, Thérèse (2000): Grammatikunterricht, alles für der Katz? Untersuchungen zum Zweitsprachenerwerb Deutsch. Tübingen: Niemeyer.
  • Funk, Hermann (2006): Modelle einer produktionsorientierten Grammatikdidaktik – Anmerkungen zu "sinn-losen" und sinnvollen Übungen. In: Feld-Knapp, Ilona (Hrsg.): Lernen lehren – Lehren lernen (= Budapester Beiträge zu DaF, Band 1), 155–169.
  • Funk, Hermann (2014): Übungsformen im fremdsprachlichen Grammatikunterricht. In: Grammatikunterricht zwischen Linguistik und Didaktik, 183–198.
  • Funk, Hermann (2021): Qualitätsmerkmale von Übungsdesigns – von der Theorie in die Praxis und zurück. In: Gretsch, Petra & Wulff, Nadja (Hrgs.): Deutsch als Zweit- und Fremdsprache in Schule und Beruf. Eine Festschrift für Gabriele Kniffka. Brill, Schöningh: 184–203.
  • Grießhaber, Wilhelm (2008): Grammatikerwerb und Diagnose: Profilanalyse. Spracherwerbsprozesse in Erst- und Zweitsprache. Eine Einführung. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr.
  • Handwerker, Brigitte (Hrsg.) (1995): Fremde Sprache Deutsch. Grammatische Beschreibung – Erwerbsverläufe – Lehrmethodik. Tübingen: Gunter Narr.
  • Handwerker, Brigitte & Madlener, Karin (2009): Chunks für DaF. Theoretischer Hintergrund und Prototyp einer multimedialen Lernumgebung (inklusive DVD). Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren (= Perspektiven Deutsch als Fremdsprache).
  • Long, Michael (2019): CLIL (and EMI): Two for the price of one? In: Falkenhagen, Charlottt; Funk, Hermann; Reinfried, Marcus & Volkmann, Laurenz: Sprachen lernen integriert – global, regional, lokal. Hohengehren: Schneider Verlag,17–42.
  • Meerholz-Härle, Birgit & Tschirner, Erwin (2001): Processability Theory: Eine empirische Untersuchung. In: Aguado, Karin & Riemer, Claudia (Hrsg.): Wege und Ziele: Zur Theorie, Empirie und Praxis des Deutschen als Fremdsprache (und anderer Fremdsprachen). Festschrift für Gert Henrici. Hohengehren: Schneider, S. 155–175.
  • Pienemann, Manfred (1987): Is language teachable? Psycholinguistic experiments and hypotheses. In: Arbeiten zur Mehrsprachigkeit 21.
  • Schlak, Torsten (2000): Adressatenspezifische Grammatikarbeit im Fremdsprachenunterricht: eine qualitativ ethnographische Studie. Hohengehren: Schneider.
  • Schlak, Torsten (2002): Die "teachability"-Hypothese Ein kritischer Überblick und neue Entwicklungen. In: Babylonia 4, 40–44.
  • Studer, Thérèse (2002): Kann man Grammatik unterrichten? Antworten aus der Perspektive des Genfer DiGSProjekts. In: Die Unterrichtspraxis 35/2, 109–122.
  • Wray, Alison (2002): Formulaic Language and the Lexicon. Cambridge: Cambridge University Press.
Hinweis

Um es nochmal klar zu stellen: An keiner Stelle in meiner Replik zweifele ich an der Praxiserfahrung und -kompetenz von Winfried Thielmann. Das ist nicht der Vorwurf. Wer aber glaubt, dass Praxiserfahrung plus linguistische Kompetenz schon eine kompetente Lehrkraft ausmacht, glaubt auch, dass, wer eine Sprache auf muttersprachlichem Niveau spricht, diese auch unterrichten kann. Wozu also die ganze Lehrer- und Lehrerinnenausbildung... (Hermann Funk)


Die Natural-Order-Hypothese – ein Plädoyer für Lehrwerke nach dem GER

Vortrag Thielmann – eine kritische Betrachtung

von Marion Grein

Auf der FaDaF hielt Prof. Thielmann einen fulminanten, rhetorisch perfekten Vortrag über die Erwerbsequenzen beim Erwerb! der Grammatik in der Erstsprache (Muttersprache) und übertrug dies auf den Bereich des Fremdsprachenlernens von Erwachsenen. Zunächst: es war ein Vergnügen dem Vortrag zu lauschen. Eingebettet hat er seinen Vortrag in eine Analogie zur Musik: Man muss erst die sog. Doppelzunge beherrschen, ehe man "Mozart" richtig auf der Querflöte spielen kann.

Er bezog sich dabei auf vorhandene Studien zu den natürlichen Grammatikerwerbssequenzen bei Kindern, die – wie in der Linguistik häufig – hierarchisch aufgebaut sind. Dieses Phänomen wird im Bereich der Sprachtypologie sehr häufig verwendet, also z. B.: Wenn eine Sprache einen Plural hat, dann hat sie auch einen Singular; wenn in einer Sprache das Verb mit dem indirekten Objekt kongruiert, dann auch mit dem direkten und dann auch mit dem Subjekt. Herangezogen wurden dann die natürlichen Erwerbssequenzen nach Clahsen, Meisel & Pienemann (1983) und die Bestätigung auch für den schulischen Bereich die Studie von Diehl et al. (2000).

Erika Diehl (o. J.: 3)1 schreibt:

Diese Frage ist im Grunde seit mindestens zwanzig Jahren akut, seit in der Spracherwerbsforschung die Hypothese aufgestellt wurde, die Grammatik von Fremdsprachen (= L2) würde auf analoge Weise erworben wie die der Mutterspache (= L1), nämlich in einer geordneten Abfolge von Erwerbsphasen, deren keine übersprungen werden könne; und dies gelte nicht nur für die "natürlichen", ungesteuerten Erwerbsformen, sondern auch – und damit wird die Hypothese für den Fremdsprachenunterricht brisant – für den gesteuerten Erwerb, also für das Fremdsprachenlernen in der Schule.

 

Wer war die Zielgruppe der DIGS-Studie?
Schüler:innen von der 4. Klasse bis zum Abitur, d. h. die Studie wurde im schulischen Umfeld durchgeführt. Was heißt das? Die Schüler:innen begannen mit dem "Unterricht" im Alter von ca. 9–10 Jahren und es handelte sich um eine konsekutive Studie, d. h. alle Schüler:innen haben ihren "Unterricht" jeweils in der Schule begonnen.

Was heißt das nun konkret?
Man sollte den Fremdsprachenunterricht in der SCHULE eventuell der "natürlichen" Reihenfolge anpassen, wobei auch Kinder kommunizieren möchten und vielleicht nicht auf die eine oder andere "Grammatik" verzichten möchten. Es muss der von den Verlagen inzwischen durchaus eingesetzte Ansatz des "chunkings", vielleicht gerade im schulischen Bereich intensiviert werden, wobei die Forderungen nach mehr und motivierendem Input m. E. einen sehr viel größeren Einfluss haben als die Berücksichtigung der Erwerbsreihenfolge bei Erstspracherwerbenden.

Was heißt das nun aber für das Fremdsprachenlernen von älteren Lernenden (ca. ab 16 Jahren)?
Ehrlich gesagt: NICHTS. Zum einen lernen Erwachsene ab 16 Jahren seit vielen Jahrzehnten sehr erfolgreich mit dem nach dem GER entwickelten Lehrwerken, die durchaus sehr viel chunking integriert haben. Nichts spricht natürlich dagegen, auch bei älteren Lernenden zu überprüfen, ob sie mit einem Lehrwerk mit "natürlicher" Erwerbssequenz noch besser oder schneller Deutsch lernen würden. Ich würde das aber keinem Verlag anraten – und die Begründung folgt:

Warum also Lehrwerke so lassen wie sie sind?
Die sog. Natural-Order-Hypothese, die, um es noch einmal zu wiederholen, besagt, dass die Aneignung sprachlicher Regeln auf natürliche Weise wie beim kindlichen Erstspracherwerb erfolgt, also nicht in der Reihenfolge, wie sie in den Curricula und Lehrwerken (GER) vorgegeben ist, wird durch die neurowissenschaftliche Forschung bei älteren Lernenden stark in Zweifel gezogen.

An die Stelle der reinen Beobachtungsstudien ist – mit Beginn bildgebender Verfahren – die evidenzbasierte Spracherwerbsforschung (evidence-based Language Acquisition) getreten. Böttger (2016: 33) beispielsweise zeigt, wie man mithilfe von MEGs (und EEGs) die sprachliche Verarbeitung (Sprachwahrnehmung und Sprachproduktion) im Kortex erkennen kann. Hier zeigt sich auch bei Erstspracherwerb durchaus eine Aktivierungreihenfolge (also eine Hierarchie) z. B. beim Sprechen. Die Hierarchie ist auch im Bereich des Schrifterwerbs nachzuweisen (also erst phonologische Bewusstheit, dann Buchstabe, dann Silbe …).

Vieles spricht auch aus neurowissenschaftlicher Perspektive für die natürliche Erwerbsreihenfolge beim Erstspracherwerb. Böttger (2020: 305) schreibt dazu: 

Ob Sprachverarbeitungsstrategien sich hierarchisch ordnen lassen, ist unbewiesen. Jedoch kann […] insofern gefolgt werden, als sich die Verbindung und der Aufbau von neuem Sprachwissen auf bereits bestehenden Mustern neuronal abbilden lassen.

(vgl. Böttger 2016)

Das heißt, man knüpft an vorhandenes Wissen an. ABER: Beim Erlernen einer Fremdsprache knüpft man nicht an bereits erworbene "Strukturen" der Fremdsprache an, sondern es werden Verknüpfungen zur Erstsprache gelegt, d. h. die Hierarchien der Erstsprache sind außer Kraft gesetzt. Anders beim Kind: Der kindliche Zweitspracherwerb verläuft bis ca. zum 6 Lebensjahr recht parallel zum Erstspracherwerb und bedarf dann wohl auch einer "natürlichen Ordnung".

Erst nach der Pubertät verlagert sich das Sprachzentrum verstärkt in die linke Hemisphäre und der präfrontale Cortex ist ausgebildet: also das Zentrum für das bewusste Lernen (statt Erwerben) ist vollständig einsatzbereit. Vom ca. 7. Lebensjahr bis zum Abschluss der Pubertät entwickelt sich der präfrontale Cortex weiter: Er möchte (bei den meisten Lernenden) nach der Pubertät zunehmend Kognitivierung und bedarf keiner festgelegten "natürlichen" Reihenfolge.

Was heißt das in Anlehnung an Thielmanns Vortrag?
Bis zum 7. Lebensjahr ist die Doppelzunge noch nicht vorhanden, sie entwickelt sich bis zum Ende der Pubertät. Sobald die Doppelzunge (in unserem Fall der präfrontale Cortex) vorhanden ist, kann man auch Mozart spielen (in unserem Falle: braucht man keine vorgegebene natürliche Reihenfolge, sondern kann sich getrost am GER orientieren).

Die Hauptkritik an der Notwendigkeit oder gar Sinnhaftigkeit einer dem Erstspracherwerb folgenden Anordnung beim Unterrichten des Deutschen als Fremdsprache (auch im schulischen Bereich) ist der mit bildgebenden Verfahren deutlich zu sehende Einfluss der Erstsprache(n):

… the natural order hypothesis fails to account for the considerable influence of the first language on the acquisition of a second language; in fact, the results of other studies indicate that second language learners acquire a second language in different orders depending on their native language. Therefore, although posited by the natural order hypothesis, second language learners do not necessarily acquire grammatical structures in a predictable sequence.

(https://parentingpatch.com)

Das wird zum Beispiel in der Studie von Purnamaningwulan (2020) deutlich, die die "natürliche Reihenfolge" des Englischen heranzieht und bei indonesischen Lernenden in der Mittelschule überprüft: Die Erwerbsreihenfolge entspricht nicht der bei englischen Kindern (im Erstspracherwerb), sondern wird von der indonesischen "natürlichen" Reihenfolge bestimmt. In der Studie finden sich der Verweise auf zahlreiche Studien, die dies ebenfalls belegen.

Was heißt das also?
Bei Lernenden, die über 16 Jahren sind, ist das Gehirn durchaus in der Lage die vom GER vorgeschlagene Reihenfolge zu "erlernen"! Die Doppelzunge spielt keine Rolle – Mozart kann loslegen!

Bei Kindern müsste man für jedes Kind dessen Erstsprache berücksichtigen, um die richtige Erwerbsreihenfolge festzulegen.

Die vom GER vorgeschlagene Reihenfolge hat bei Milliarden von Lernenden im Inland und Ausland gefruchtet – also: Vertrauen Sie weiterhin auf die Lehrwerke der renommierten Verlage (Cornelsen, Hueber, Klett und Schubert).

1 https://web-seminar.at/wp-content/uploads/2019/04/Grammatikvermittlung_DIGS-Diehl-2.pdfExterner Link

Literatur

  • Diehl, Erika; Christen, Helen; Leuenberger, Sandra; Pelvat, Isabelle & Studer, Thérèse (2000): Grammatikunterricht – alles für der Katz? Untersuchungen zum Zweitspracherwerb Deutsch. Tübingen: Niemeyer
  • Böttger, Heiner (2016): Neurodidaktik des frühen Sprachenlernens: Wo die Sprache zuhause ist. Utb.
  • Purnamaningwulan, Rina Astuti (2020): Analysis of Grammatical Morpheme Acquisition of Indonesian High School English Learners. Indonesian Journal of English Language Studies 6/1.

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Winfried Thielmanns Antwort auf die Einwände gegen seine Lehrwerkkritik im FaDaF-Plenarvortrag 2021

von Winfried Thielmann

Zunächst vielleicht einmal zu meinem Hintergrund. Ich habe fast zehn Jahre durchgängig in Australien (Canberra) gelebt (1994-2003), wo ich auch mit einer Australierin verheiratet war, und habe in dieser Zeit etliche tausend Stunden Sprachunterricht erteilt: 

Ich war Dozent im Deutschprogramm der Australian National University (ANU, Department of Modern European Languages), ich war in der Erwachsenenbildung der ANU (Centre for Continuing Education) sowie in einer privaten Erwachsenenbildungseinrichtung tätig, ich war in der German Language School tätig, die Erwachsene auf Goethe-Prüfungen vorbereitet hat, ich habe Privatunterricht für Jugendliche gegeben und ich war Linguistic Consultant der Sprachabteilung des Australischen Außenministeriums (DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade), wo ich Intensivkurse für Diplomaten (häufig Nullanfänger) gegeben und diese bis zur Verhandlungsreife geführt habe.

DFAT benutzt m. W. bis heute ein Examensformat, das ich als Mitglied des Examination Board entworfen habe, und das sich vom Vorgängerformat dadurch unterscheidet, dass es tatsächliches sprachliches Handlungsvermögen in den für Diplomaten einschlägigen Bereichen eruiert. Etliche Diplomaten, die nach dem deutschen Sprachunterricht im Außenministerium noch in Deutschland Sprachkurse besucht haben (das sogenannte in-country-training) berichteten, dass der Unterricht, den meine Kollegin, die Linguistin Gedda Aklif, und ich erteilt haben, in einem Maße zielführender gewesen sei, dass DFAT damals das in-country-training für Deutsch abgeschafft und die Unterrichtszeit in der Sprachabteilung verlängert hat. Da Evaluationen in Australien sehr wichtig sind, habe ich in allen Institutionen, in denen ich tätig war, viele durchführen lassen, stets mit guten bis sehr guten Resultaten.

Als Wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Fremdsprachen der TU Chemnitz habe ich in etlichen Deutschkursen verschiedener Ausrichtung hospitiert; etliche Studierende des Masters Interkulturelle Germanistik führen am Sprachenzentrum Hospitationspraktika durch, in denen sie Unterrichtsdaten erheben, transkribieren und diskutieren und zur Grundlage ihrer Masterarbeiten machen – diese Ergebnisse speise ich dann in Fortbildungen im Sprachenzentrum wieder ein.

Schon bevor meine Professur das Erweiterungsfach DaZ im Rahmen des Grundschullehramts eingeworben und implementiert hat (2016), haben meine Mitarbeiterinnen in großem Umfang Unterrichtsdaten erhoben, die ich gut kenne – einiges davon ist auch schon in Publikationen eingegangen. Zudem haben wir von der Professur aus etliche Lehrerfortbildungen durchgeführt, darunter eine zweijährige berufsbegleitende Weiterbildung DaZ im Umfang eines studierten Faches, bei der wir von den Lehrern immer gleich die Rückmeldung bekommen haben, wie sich das, was wir ihnen vermittelten, in der Praxis bewährte. Meine sehr aktiv forschenden Mitarbeiterinnen und ich haben so an der Professur eine, wie ich meine, durch die Wissenschaft wie durch die Praxis informierte sehr schöne DaZ-Expertise aufgebaut, deren Qualität auch dem Sächsischen Kultusministerium nicht verborgen geblieben ist. Was die Integrationskurse betrifft, so sind wir mit etlichen Bildungsträgern im Gespräch und haben es – nicht zuletzt durch einen gemeinsamen Vortrag auf einer Konferenz der Bildungsträger in Dresden 2016, der weithin Wellen geschlagen hat – aktiv mitbefördert, dass anerkannt wurde, dass das B1-Niveau für eine Berufsausbildung nicht ausreichend ist.

Ich meine also sagen zu können, dass ich ein bisschen was von Sprachunterricht verstehe und dass ich das, was ich über gegenwärtigen Sprachunterricht sage, auf breiter empirischer Grundlage tue. Ich habe übrigens meine Professur nicht bekommen, weil ich die Resultate der empirischen Zweitspracherwerbsforschung kannte, sondern weil ich glaubhaft machen konnte, dass ich als jemand, der nicht nur bei Angelika Redder und Konrad Ehlich, sondern auch bei Harald Weinrich, Dietrich Krusche und Hans-Joachim Störig studiert hat, auf Grundlage auch reicher praktischer Erfahrung in der Sprachvermittlung das Fach in seiner ganzen Breite vertrete, wozu neben Sprachlehr- und Lernforschung auch die Linguistik der deutschen Gegenwartssprache, Fach- und Wissenschaftssprache, Deutsche Literatur, Interkulturelle Hermeneutik und Deutsche Landeskunde gehören. Meine programmatische Antrittsvorlesung von 2010 hänge ich mit an.

Während ich aktiv im Sprachunterricht tätig war, habe ich immer versucht, belastbare Forschungsergebnisse in den Unterricht zu integrieren – so war mir irgendwann klar, dass man besser fährt, wenn man mit den Erwerbsstufen mitgeht als gegen sie anzuunterrichten. Bekanntlich komme ich aus der Funktionalen Pragmatik, und es war mir daher immer sehr wichtig, dass Lerner im Sprachunterricht sprachliches Handlungsvermögen erwerben. Ich habe daher die Fertigkeitendidaktik kritisch reflektiert: Hörübungen sind meistens nur auf den Äußerungsakt bezogen, was bei Anfängern wichtig und richtig, bei fortgeschrittenen Lernern aber fatal ist, da sie nie wirklich in der Hörerrolle sind. Ähnlich steht es ums Lesen – auch hier geht es meistens um den Äußerungsakt, bestenfalls noch den propositionalen, aber zur Illokution kommt man, wie beim Hören, praktisch nie. 'Sprechen' ist nach wie vor bestenfalls zitierendes Handeln im Sinne Grießhabers, häufig ein Abarbeiten von Aufgaben mit Redemitteln aus dem Kasten, also äußerungsaktbezogen. Ich denke, ich habe bereits damals recht innovative Lösungen entwickelt, wie man von dieser Fertigkeitendidaktik weg und zumindest partiell hin zu einem Unterricht kommen kann, der nicht nur kommunikativ aussieht, sondern das auch ist. In unserem Master Interkulturelle Germanistik gibt es für die Profilierer im Bereich DaF/DaZ ein Seminar, das sich ausschließlich diesen Fragen widmet und in das, wie ich schon sagte, die empirischen Unterrichtsbeobachtungen der Studierenden einfließen. Wenn ich meine gegenwärtigen Verpflichtungen abgearbeitet habe, werde ich auch zu diesem Bereich publizieren; es war mir in den letzten Jahren einfach zu wichtig darauf hinzuarbeiten, dass wenigstens schon einmal die Erkenntnisse der Spracherwerbsforschung endlich ihren Weg in die Praxis finden.

Was meine eigene Unterrichtserfahrung wie auch die aktuellen Daten, die wir erhoben haben, zeigen, ist: Die Basis für Sprachunterricht sind nach wie vor die Lehrwerke – was auch gut ist, allein schon wegen der lexikalischen Progression – und das, was da drin steht, wird auch gemacht. Wie unsere Daten zeigen, mitunter auch auf Biegen und Brechen, wenn etwa im schulischen DaZ-Unterricht mit Lernern, die kaum das Finitum haben, der Akkusativ geübt wird, weil er halt 'dran' ist. Was in den Lehrwerken drinsteht, ist in der Praxis nach wie vor Lehr- wie Lernziel, und so stellt sich dann doch die Frage der Progression, die, wie ich das überblicke, sich im wesentlichen seit dem Erscheinen von Deutsch aktiv und Themen nicht geändert hat.

Über Spracherwerb wissen wir nach wie vor recht wenig: Wir wissen praktisch nichts über den Erwerb sprachlichen Handlungsvermögens, wir wissen nichts über die konzeptuelle Seite, wir wissen praktisch nichts über die Rezeption, was Nadja Wulff auch zu Recht angemerkt hat.

Aber: Wir wissen, dass es im Bereich der syntaktischen und morphologischen Strukturen eine unterrichtlich nicht zu beeinflussende natürliche Erwerbssequenz gibt, und wir wissen, dank Grießhaber, was für weitere Strukturen mit bestimmten syntaktischen Vermögen korrelieren – so z. B. der hörerorientierende Einsatz des Determinationssystems mit der Lufthoheit über das Vorfeld. Aus Grießhabers Beobachtungen lassen sich auch vorsichtig Erwartungen bezüglich der sprachlichen Handlungskompetenz ableiten – wie auch aus den Daten ersichtlich, die ich im Vortrag gezeigt habe, ist B1, also die erste Stufe der selbständigen Sprachverwendung, ohne das Vermögen zur hörerorientierenden Vorfeldnutzung nicht zu realisieren. Hieraus sind Konsequenzen zu ziehen, die ich kurz darstellen möchte:

Unterrichtliche Lernziele müssen, das zeigt die Forschung, am aktuellen Vermögen der Lerner orientiert sein. Es bringt daher nichts, mit Lernern, die kaum das Finitum erworben haben, Perfekt oder Akkusativ zu üben mit dem Ziel, dass sie das dann können. Wir haben deprimierende Daten aus DaZKlassen, wo so etwas geschieht, und es ist kaum auszuhalten, das mitanzusehen. Zu keiner Zeit habe ich in meinem Vortrag oder der Diskussion gesagt, man solle Lernern, die das haben wollen, den Einblick in Strukturen verweigern – das wäre auch damit nicht vereinbar, dass wir über die Rezeptionsseite so wenig wissen. Gerade erwachsene Lerner würden dies, wie Du1 richtig sagst, als Bevormundung empfinden. Ich kann mir vorstellen, dass Lerner sehr davon profitieren, wenn man ihnen für Rezeptionszwecke Einblick in Strukturen gibt, für die sie noch nicht 'reif' sind, aber man müsste man halt auch mal erforschen, in welchem Maße das sinnvoll ist. Übrigens: Ich habe auch in meinen Publikationen nie gesagt, dass man Lernern Strukturen vorenthalten soll, sondern nur, dass sich die Lernziele am Vermögen der Lerner orientieren sollten. Von jemandem, der die dritte Oktave auf der Flöte noch nicht 'kriegt', kann man nicht erwarten, dass er in dieser Lage eine Melodie spielt.

Aber wir haben gegenwärtig halt die Akkusativ-Kapitel-Drei-Didaktik in praktisch allen Lehrwerken, wo Lerner auf A1 mit dem halben Strukturinventar des Deutschen als Lernziel zugemüllt werden und etwa der Deutschtest für Zuwanderer Strukturkenntnisse erwartet, die nicht sinnvoll sind.

Wie ich zu zeigen versucht habe, sind diese Strukturerwartungen auch mitnichten anhand des Referenzrahmens zu rechtfertigen. Durch die hundsmiserable Übersetzung des – wissenschaftlich leider nur sehr einseitig informierten – englischen Originaldokuments wird dessen Gehalt zudem zu Herrschaftswissen, das es dann doch mal in die deutsche Wirklichkeit hineinzuholen gälte, dann aber bitte durch Akteure, die diesbezüglich verantwortungsvoll agieren (ich habe mich, wie sich auch aus meiner Habilitationsschrift ersehen lässt, um das Englische sehr bemüht und erkenne durchaus, wenn die Bemühungen anderer um diese Sprache nicht so weit gehen wie die meinen).

Dass bei der Übersetzung von "can understand and use familiar everyday expressions and very basic phrases" plötzlich von "einfachen Sätzen" die Rede ist, wird als Rechtfertigung genommen, auf A1 das halbe Strukturinventar des Deutschen zum Lernziel zu machen, das ist wirklich grober Unfug. Wie ich zu zeigen versucht habe, sind die Deskriptoren testtheoretisch gesprochen als Kriterien aufzufassen, für die es wissenschaftsbasiert Konstrukte zu entwickeln gilt. Wie ich ausgeführt habe, ist der zentrale Deskriptor für das B1-Niveau, "can produce simple connected text", als das Vermögen zur einfachen hörerorientierenden Äußerungsverkettung zu interpretieren, was der hörerorientierenden Nutzung des Vorfeldes entspricht. Die Nebensatzstruktur ist bei solchem Vermögen häufig schon emergent, es sollte aber nicht verlangt werden, dass Lerner sie in Prüfungen aktiv produzieren können (verstehen sollten sie einfachere Nebensätze m. E. hingegen schon). Die aktive Beherrschung des Kasussystems ist hingegen m. E. noch weit jenseits eines solchen Vermögens, was jedoch keineswegs bedeutet, dass man es unterrichtlich nicht behandeln sollte. Man sollte es nur nicht produktiv abfordern.

Dass ein solches Vermögen im Sinne von "can produce simple connected text" als 'zu wenig' im Sinne des B1-Niveaus erscheinen mag, hängt m. E. mit einer etablierten Sprachdidaktik zusammen, die, wie ich in etlichen Publikationen zu zeigen versucht habe, die tatsächlichen Schwierigkeiten des Deutschen, u. a. das Determinationssystem oder die Rolle von Anadeixis und Anapher bei der Äußerungsverkettung, noch gar nicht erkannt hat und nach wie vor "Personalpronomen" und "Artikelwörter" zur unterrichtlichen Behandlung vorsieht. Das Vermögen zur hörerorientierenden Äußerungsverkettung ist, wie die Daten zeigen, die ich kenne, eine schon ziemlich fortgeschrittene Erwerbsstufe, die sich auch entsprechend spät einstellt, d. h. erheblich später als nach 100 Stunden Sprachunterricht.

Mein Credo, um das kurz zusammenzufassen, ist, dass man sich ergebnislos methodisch auf den Kopf stellen und mit den Zehen wackeln kann, wenn man von Lernern erwartet, dass sie sich Strukturen aneignen, für die sie noch nicht reif sind, oder wenn man Strukturen unterrichtet, die es nicht gibt – etwa 'Inversion', 'Aktiv-Passiv-Transformation', 'Futur' oder 'Personalpronomina'. In etlichen Publikationen wie auch in meinem Buch über die Wortarten aus funktionaler Perspektive habe ich angedeutet, wie ein alternativer Blick auf diese Dinge aussehen könnte.

Wir sind aber völlig einer Meinung dahingehend, dass man Lernern auf allen Stufen ein über ihr aktuelles Vermögen hinausgehendes reichhaltiges Sprachangebot machen sollte, bei dem die strukturellen Lernziele sich an ihrem tatsächlichen Vermögen orientieren (das sind die "Förderhorizonte" Grießhabers), die Lehrziele aber natürlich darüber hinausgehen. Für A1 würde das bedeuten, sich tatsächlich von allen strukturellen Erwartungen, ganz im Sinne des Referenzrahmens, als Lernziel zu verabschieden, Strukturen aber durchaus im Sinne eines Lehrziels zu thematisieren und Lernern natürlich auch stets diejenigen Strukturen zu vermitteln, in die sie einen Einblick haben wollen. Natürlich sollten Lerner auf A1 Äußerungen mit Modalverb wie 'ich möchte gerne X', oder mit Situativ- oder Direktivergänzungen ('ich wohne in X', oder 'ich fahre nach X') verstehen und realisieren können, aber man sollte von ihnen nicht erwarten, dass sie Präpositionen mit Kasusrektion oder zweiteilige Prädikationen strukturell 'draufhaben' oder den Akkusativ beherrschen, wie dies gegenwärtig geschieht.

Ein Zurückfahren der strukturellen Lernziele auf den Niveaustufen A1-B1, wissenschaftlich informiert durch belastbare Resultate der Spracherwerbsforschung und ganz im Sinne des Referenzrahmens (Originaldokument) würde gewährleisten, dass die Lerner, ohne gegängelt zu werden, in viel größerem Umfang als bisher ihr Vokabular ausbauen und diejenigen Strukturen festigen könnten, die ihrem jeweiligen Vermögen entsprechen. Nach allem, was wir im Moment über Spracherwerb wissen, fahren wir mit der gegenwärtigen Progression, die auch am Referenzrahmen (Originaldokument) völlig vorbeigeht, ein lexikalisch-strukturelles Fehlprodukt ein, indem die Lerner dazu gebracht werden sollen, mit Strukturen, die sie noch nicht haben können, Dinge zu sagen, für die ihnen die Wörter fehlen.

 

1 = Hermann Funk