Merian CALAS Cono Sur

Presse

Merian CALAS Cono Sur und Brasilien
Merian CALAS Cono Sur
Illustration: CALAS
  • Elsa Marie Steenbuck (HIWI an der Universität Jena)
    Foto: Elsa Marie Steenbuck
    Gewalt und Widerstand: Identitäten im Gespräch von Elsa Marie Steenbuck

Dialogplattform: Identitäten, Gender und soziale Ungerechtigkeit in Lateinamerika

Foto: Eve Schonfeld

Wie verknüpfen sich Identität, Gender, Gewalt und Widerstand in Zeiten des Neoliberalismus, der Pandemie und Migrationsbewegungen in Lateinamerika? Was können politische Wege sein, um die daraus entstehenden sozialen Ungleichheiten zu konfrontieren? Was sind die Forderungen der aktuellen feministischen Bewegungen? Und wie konstruiert sich eine Erinnerung über die erlittenen Menschenrechtsverletzungen?

In der vierten Plataforma para el Diálogo “Identidades, Géneros y Desigualdades en América Latina” des Center Maria Sibylla Merian für Lateinamerikastudien in Geistes- und Sozialwissenschaft (CALAS), die vom 24. Bis 26. Oktober 2022 in dem lokalen Sitz des Cono Sur und Brasiliens in der Universidad Nacional de San Martín (UNSAM) in Buenos Aires, Argentinien, stattfand, trafen sich werdende und erfahrene Wissenschaftler:innen Lateinamerikas, um ihre Forschungsprojekte zu präsentieren. Für die Konferenz kollaborierten die UNSAM und die Friedrich-Schiller-Universität Jenas. Finanziert wurde sie von dem Ministerium für Bildung und Forschung (BMBF).

Montserrat Sagot_Dialogplattform_ Identitäten, Gender und soziale Ungerechtigkeit in Lateinamerika

Foto: Eve Schonfeld

Die Soziologin aus Costa Rica, Montserrat Sagot, leitete die Veranstaltung mit ihrem Vortrag „Cuerpos descartables, necropoder y asesinato social: sobre los límites de la justicia en contextos de despojo” ein, in dem sie sich auf Konzepte von Friedrich Engels und Achille Mbembe bezog. Sie zeichnete einen neoliberalen Staat, in dem Frauen, BiPoC, queere Communities etc. aufgrund ihrer marginalisierten Körper in die Prekarität und „zonas abandonadas“ (verlassene Zonen) verdrängt werden, wo sie keinen Zugang zu Gesetz oder Menschenrechte besitzen. Sagot forderte in ihrem Vortrag eine Neuausrichtung des Aktivismus auf diese verlassenen Zonen, damit die Gruppen, die den Schutz der Menschenrechte brauchen, sie beanspruchen können.

Am ersten Tag diskutierten die Mitwirkenden die verschiedenen Faktoren, wie junge Mutterschaft, unsichtbare und prekäre Arbeit, Rassismus, die zu der Prekarität marginalisierter Identitäten beitragen. Die zentralamerikanischen Migrationsbewegungen wurde sowohl in den Forschungsprojekten von Ana Lucía Fernández (Universidad Estatal a Distancia y Universidad de Costa Rica) als auch Rosa Patricia Román Reyes (Universidad Autónoma del Estado, Mexiko) diskutiert, die das Augenmerk auf die Verschlechterung der Migrationsbedingungen während der Pandemie richteten. Ana Lucía Fernández diskutierte die ‚ciudadanía colonial‘ (koloniale Bürgerschaft), durch die zu der prekären Lage von Migrant:innen in Costa Rica beiträgt. Sie klassifiziert diese ‚ciudadanía colonial‘ einerseits durch die geringe Sichtbarkeit der Arbeit der Migrantinnen in Hotels, Restaurants, im Verkauf oder als Care-Arbeit, die nicht als ‚zur Entwicklung einer Gesellschaft beitragend‘ gesehen wird – anders als männlich markierte Arbeit in der Konstruktion. Andererseits wird die Migration aus zentralamerikanischen Ländern von einer ‚erwünschten‘, westlichen und reichen Migration durch den ethnischen Mythos einer weißen homogenen Gesellschaft, in diesem Fall Costa Ricas, abgetrennt wird.

Dialogplattform: Identitäten, Gender und soziale Ungerechtigkeit in Lateinamerika

Foto: Eve Schonfeld

Am zweiten Tag des Events diskutierten die Anwesenden die Machtstrukturen und verschiedenen strukturellen Erscheinungsformen des Sexismus und wie dadurch die für Frauen zugänglichen Räume verkleinert werden, ihr Bewegungsraum durch „rote Zonen“ limitiert. Die Strategien, die sich mit diesem Problem auseinandersetzen, verweisen lediglich auf Methoden der Vermeidung. Wenn sich von Sexismus betroffene Personen daran nicht halten und Gewalt erleiden, tragen sie, weil sie sich nicht selbst geschützt haben, die Schuld. María Laura Schaufler (CONICET, Universidad Nacional de Entre Ríos, Argentinien) argumentierte, dass selbst Feminist:innen teilweise, in dem Versuch, sexualisierte Gewalt zu kritisieren, infantilisierende und demütigende Narrative reproduzieren. Barbara Sutton (University at Albany, USA) diskutierte in ihrer Präsentation Gewalt durch Vaterschaft. Sie definierte eine Vaterschaft, die sich durch zwei ambivalente und miteinander verknüpfte Aspekte definiert: die Autorität und die Liebe. Die Autorität fordert Kontrolle über die Kinder und die Liebe ‚entschuldigt‘ die ausgeübte Gewalt. Auch dies ist eine Manifestation der Kontrolle. Sutton fordert eine neue und liebevollere Vaterschaft, die nicht von Gewalt und Autorität abhängig ist. Andere angeschnittene Themen des Tages beinhalteten westliche und weiße Schönheitsideale und die sexuelle Aufklärung als Mittel, um Sexismus zu bekämpfen.

Dialogplattform: Identitäten, Gender und Ungerechtigkeit in Lateinamerika

Foto: Eve Schonfeld

Der letzte Tag der Konferenz wurde Themen der Erinnerungskultur und feministischen Bewegungen gewidmet. Marcos Tolentino (Universidade Estadual de Campinas, Brasil) präsentierte das Acervo Bajubá” in Brasilien, ein Erinnerungszentrum für die LGBTQ+-Community. Eingeladene Transaktivist:innen San Martíns berichteten in einer Diskussionsrunde von der erlittenen Gewalt in der Zeit der Post-Diktatur und forderten Schadensersatz vom argentinischen Staat. Jessica Nathalie Corpas Figueroa (CONICET/Universidad Nacional de Cuyo, Argentinien) stellte das Konzept der ‘afroepistemología’ vor, das die Weltsicht und das Wissen der Schwarzen Community in Kolumbien beschreibt, wie sich die Frauen der Schwarzen Community als politisches Subjekt selbst konstruieren und eine Erinnerungskultur und Philosophie der ‚afrodignidad‘ schaffen, um dem erlittenen kulturellen Genozid entgegenzuwirken. Letztendlich setzten sich die Beteiligten mit aktuellen feministischen Bewegungen auseinander, inwieweit sie sich nicht mit den Demonstrationen von 2015 identifizieren, ihrer militancia und festejo, und der mangelnden Repräsentation von Frauen in Gewerkschaften Boliviens.

Die Veranstaltung, die ursprünglich für den April 2022 angedacht war, aber wegen der Covid-19-Pandemie verschoben wurde, endete erfolgreich. Im ihrem Verlauf stellten Migrant:innen des Río Reconquista von San Martín arpilleras (Teppichkunst) und Kunstwerke aus. Durch die verschiedenen Perspektiven der Beteiligten, ergab sich ein Diskussionsraum mit vielfältigen, dekolonialen und intersektionalen Perspektiven, die einen Beitrag dazu lieferten, die Identitäten, Gender und Ungleichheiten Lateinamerikas zu dekonstruieren und umzudenken.